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Als wäre es Liebe

Als wäre es Liebe

Titel: Als wäre es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicol Ljubic
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Schneise, die ans Meer führt. So früh am Morgen sind noch keine Menschen unterwegs, der Bahnhof liegt verlassen da. Sie sucht einen Parkplatz. Eine kleine Halle, eine Bar, ein Zeitungskiosk. Aushänge mit den Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Durch zwei Schwingtüren und sie steht auf dem Bahnsteig. Zwei Gleise, die sich vor und hinter dem Bahnhof zu einem Strang vereinen. Aus welcher Richtung kommt der Zug? Vermutlich aus Genua. Also muss sie auf den anderen Bahnsteig.
    Wie hätte er seine Ankunft erlebt?
    Er steigt die steilen Stufen herab und steht auf dem Bahnsteig. Es ist kühler, als er es sich vorgestellt hat im Süden. Er bleibt einen Moment auf dem Bahnsteig stehen, sieht sich um, atmet die Meerluft ein, während die anderen müde, aber gut gelaunt dem Ausgang entgegenstreben. Wie wäre es für ihn gewesen, hier zu stehen, mehr als einen kleinen Koffer hatte er nicht dabei. Eingepackt hatte er eine Hose, mehrere Paar Socken, drei Hemden, Unterhemden, die er hier nicht hätte gebraucht, das Fläschchen mit dem Liebescocktail. Er hatte keine Badehose dabei. Keine Zahnbürste, keinen Rasierer, nicht mal einen Kamm. Und Geld? Dreitausend Lire und keinen gültigen Fahrausweis. Sie hört die Stimmen der anderen, die drei jungen Frauen, die eine Woche bleiben wollten. Wie fröhlich sie sind. Endlich am Meer. Endlich Urlaub. Hoffentlich bleibt das Wetter so. Wie warm das Wasser wohl ist? Weiß eine von euch, wo wir lang müssen? Wie heißt Entschuldigen Sie? Scusi? Scusi, Signora, Hotel Garibaldi? Er ist der Einzige, der nicht weiß, wohin, der kein Zimmer hat. Aber darüber denkt er nicht nach. Er dreht sich um und sieht durch die Fenster des Bahnhofs das Meer. Er betritt die kleine Halle, es ist kühl, draußen sieht er die Menschen mit ihrem Gepäck, ihren Rucksäcken die Straße zum Meer entlangziehen. Aber er bleibt stehen, die Treppe unter ihm, und fühlt sich zum ersten Mal wie ein König. Er sieht ein paar Tauben im Schatten des Gebäudes sitzen und nach Brotkrumen picken.

Zum ersten Mal sehe ich das Foto einer der Frauen. Auf der letzten Seite, der Innenseite des Moleskindeckels, ist ein Umschlag und darin steckt ein Foto. Es sieht aus wie aus einer Zeitung geschnitten, schwarzweiß, grobkörnig. Darunter eine Zeile: »Abb. 5: Lage der Leiche im Wassergraben unterhalb der Bahnböschung nach Wegnahme der abgerissenen Gräser, mit über Schulter und Kopf ausgebreitetem, zerrissenem Kleid, Handtasche rechts der Schulter und Schuh links am Bildrand.« Zu sehen ist der Rücken einer Frau, der obere Teil des Rückens und der Kopf sind von einem schwarzen Kleid bedeckt, der untere Teil ist entblößt, man sieht ihren nackten Hintern, einen großen Blutfleck auf der linken Pobacke, sie kniet, den Kopf auf dem Boden unter einem Ast mit Blättern. Ein Foto ohne Gesicht, ein blutbedeckter, vergewaltigter Hintern. Das Erschreckende ist diese Anonymität, eine Frau in der Böschung, wie weggeworfen. Ich habe mich oft gefragt, ob meine Mutter jemals an seine Opfer gedacht hat. An die Frauen, die er getötet hat, die für seine Sehnsucht mit dem Leben bezahlen mussten. In einem der Artikel stand, dass er aus Liebe tötete. Aber was war das für eine Liebe? Und wieso konnte meine Mutter darin eine Liebe erkennen? Sie sprach von seiner Sehnsucht nach Liebe, und ich fragte mich, ob auch sie diese Sehnsucht in sich spürte. Ob das vielleicht die Identifikation war, von der ich in dem Buch über Frauen, die Mörder lieben, gelesen habe. Um mit jemandem eine Liebesbeziehung eingehen zu können, der einen anderen Menschen umgebracht habe, müsse man sich in gewissem Maße mit dieser Tat und der dazugehörigen Motivation identifizieren können. Sie hat nie über die Frauen gesprochen, die er umgebracht hatte, immer nur über ihn, deshalb hatte ich die ganze Zeit gedacht, diese Frauen seien ihr egal gewesen. Und als ich das Foto entdeckte und herauszog, war ich mir sicher, dass es das Bild vom Nikolaus ist.

Es sind fünfzehn Stufen vom Bahnhof abwärts, sie zählt sie mit jedem Schritt. Sie geht die Straße dem Meer entgegen. Sie ist allein. Es weht kein Wind, das Meer liegt still vor$Z$ihr, es ist nicht zu hören. Es ist zu früh. Nur selten, dass das Meer am Morgen schon stürmisch ist. Meist beruhigt es sich nachts, sie weiß nicht, woran das liegt, ob es an der Kraft des Mondes liegt? Dann steht sie auf der Promenade, die den Ort auf ganzer Länge säumt. Palmen. Und vor ihr der Strand. Die Bucht ist größer, als sie erwartet

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