Als wäre es Liebe
Vater.
Sie hat überlegt, ob sie ihrer Freundin von seinem Tod erzählen sollte, ließ es dann aber. Sie wollte es nicht darauf ankommen lassen, zu hören, dass sie froh sein solle, dass es vorbei sei, dass sie doch jetzt mal abschließen könne, auch für ihn habe das Leiden ein Ende, was sei denn das für ein Leben hinter Gittern.
Nachdem sie ihren Espresso getrunken hat, geht sie zur Theke und bestellt einen zweiten. Ein einziges Paar steht neben ihr an der Bar. Fast synchron führen sie ihre Tässchen zum Mund, ohne sich dabei anzuschauen. Der Mann hinter der Theke schiebt ihr eine Tasse entgegen, er sagt etwas auf Italienisch, das sie nicht versteht. Und als sie die Schultern hebt, lacht er. »You«, und er zeigt auf sie, »don’t want to sleep. You drive long way to Italia. From where?«
»Germany«, sagt sie. Und er nickt. Der zweite Espresso wird sie wach halten. Im Auto schaltet sie das Radio ein und sucht einen Sender, sie weiß nicht, worüber die Stimme spricht, aber sie ist froh, eine fremde Stimme zu hören, eine tiefe Männerstimme, die wie beschwingt erzählt, sich manchmal nahezu überschlagend, um dann fast zu lachen und wieder in eine gespielte Ernsthaftigkeit zu verfallen. Sie weiß nicht, worüber dieser Mann spricht, und sie hört ihm zu, während sie in konstanter Geschwindigkeit über die Autobahn fährt und immer wieder die Scheinwerfer im Rückspiegel aufleuchten sieht, die sie im nächsten Moment überholen. Dann hört sie, wie er mit einer Hörerin spricht, die sich am Telefon vorstellt. Francesca, aus Torino. Sie weiß nicht, worüber sie spricht. Aber er lässt sie reden, und erst nachdem eine Pause in der Leitung entsteht, bedankt er sich bei ihr und redet wieder, wobei er mehrmals ihren Namen erwähnt. Dann nimmt er einen weiteren Anrufer entgegen. Wieder eine Frau. Für einen Moment ist sie erschrocken, weil sie nicht sicher ist, ob sie die Abfahrt verpasst hat. Die Autobahn teilte sich, sie blieb auf der Spur – und beschließt, einfach weiterzufahren. Sie schaut auf die Uhr. Es ist kurz vor zehn.
Mit wem spreche ich? Der Name ist nicht wichtig. Sie sind nicht von hier? Nein, ich komme aus Deutschland, ich bin gerade im Auto unterwegs. Nenn mich Morgenstern, wenn du unbedingt einen Namen brauchst. Was machst du in Italien, Morgenstern? Ich will ans Meer. Wo bist du gerade? Auf der Autobahn. Es ist spät, du solltest eine Pause machen, das Meer ist auch morgen noch da. Vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon? Das kann ich dir versprechen. Das Meer ist schon seit tausend Jahren da, und morgen wird es auch noch da sein. Bist du allein? Ich weiß es nicht. Du gibst uns Rätsel auf. Die Erinnerung fährt mit. Zählt das? Ich würde sagen, ja. Dann bin ich nicht allein. Was hast du vor? Ans Meer fahren. Ich kannte mal einen Mann, der noch nie in Italien war. Er war mal auf dem Weg, aber er ist nicht weit gekommen. Das ist eine traurige Geschichte, die du uns erzählst, Morgenstern. Ja, vielleicht ist sie das. Und du? Hast du ihn geliebt? Ist das denn wichtig? Ich habe in ihm etwas gesucht, aber das ist mir erst jetzt bewusst geworden, obwohl ich es eigentlich von Anfang an wusste. Er war für mich nicht zu haben. Und ich dachte, ich könnte ihn retten. Meine Nähe könnte ihm helfen. Ich konnte Opfer und Täter nicht mehr auseinanderhalten. Und jetzt schließt du ab? Du bringst ihn ans Meer. Ja. Fahr vorsichtig, Morgenstern, du machst dir viele Gedanken, pass auf, dass du keinen Unfall baust, und wenn ich dir noch einen Rat zum Schluss geben darf: Mach eine Pause. Du hast noch einen weiten Weg vor dir.
Ich mochte meinen Großvater, nicht so gern wie meine Großmutter, aber die wenigen Male, die ich zu Besuch war, kamen wir gut miteinander aus. Er war streng, ich musste essen, was auf den Teller kam, und manchmal klopfte meine Großmutter mit dem Zeigefinger auf den Tellerrand und sagte, das werde schön aufgegessen, »vorher verlässt du nicht den Tisch.«
Sie sagte: »Kinder brauchen Regeln, sonst werden sie der Gesellschaft nicht nützlich.«
Mein Großvater legte mir zur Begrüßung jedes Mal seine Hand auf den Kopf und musterte mich. »Und, Benno, alles klar?«, fragte er dann, und ich nickte. Denke ich an meinen Großvater, sehe ich ihn im Wohnzimmer im Sessel sitzen und Zeitung lesen. Manchmal sprach er dabei, aber mir war nie klar, zu wem. »Volksschädlinge« war so ein Wort, das er hin und wieder verwendete, oder »rote Gefahr«. Manchmal wandte er sich auch mir zu
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