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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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seltsam es ist, dich endlich zu sehen.« Sie schauten sie an, die Augenlider violett und verdrießlich dünn, das pechschwarze Haar von Carlas Vater. Jedes Strampeln, jedes Zucken der Mundwinkel, das Heben und Senken der Brust, wenn das Baby schlief, waren ein Abenteuer, ein Ereignis. Seine Gedanken, das konnte Carla spüren, waren milchweiß. Carla liebte es, diesen neuen, zarten Rücken in ihren Händen zu halten. Als Denise drei Monate alt war, war ihr Lieblingsspielzeug ein seltsamgesichtiger, fliederfarbener Teddy, den sie sich mit Begeisterung auf den Mund schlug, während sie mit den Beinchen strampelte. Antoney hatte väterlichen Enthusiasmus gezeigt, bis Denise ungefähr vier Monate alt war. Er verstand nämlich nicht, warum sich Kinder benahmen, wie sich Kinder benehmen. Er verstand nicht, warum Denise Joghurt essen und gleichzeitig ihren Fuß in den Mund stecken wollte.
    »Nimm sie mal eine Minute, ich hol grad ihre Arznei.« Carla reichte ihm das Kind nach unten. »Dann fängt sie doch gleich wieder an zu weinen«, sagte er.
    »Ja, mag sein. Aber sie schläft halb, nun nimm sie einfach.«
    Vater und Tochter gingen eine unverfängliche Umarmung ein. Denise weinte erneut.
    »Reib ihr über den Rücken. Tröste sie!«
    » Versuch ich ja.«
    »Gib sie schon her.« Carla ließ die Arznei auf dem Schrank stehen und zog Denise wieder in ihren warmen, pflaumenvioletten Hort. Die Arznei war etwas Süßes, Bemerkenswertes. Denise seufzte und lümmelte sich auf dem unruhigen Schoß ihrer Mutter.
    »Weiß Bluey eigentlich, wo wir wohnen?«, fragte Carla aus heiterem Himmel.
    In genau diesem Moment ging – wenig hilfreich – die Schallplatte der Maytals zu Ende.
    Antoney setzte an: »Genau das wollte ich …«
    »Er fehlt mir. Ich versteh einfach nicht, wieso er …«
    »Kannst du mich verdammt noch mal ausreden lassen?«, sagte er. »Ich will dir etwas erzählen und komm nicht zu Wort. Ricardo hat mir erzählt, dass Bluey tot ist. Er hat sich überfahren lassen, mit Absicht.«
    Eine Weile sah sie Antoney sprachlos an. Bei seinen Worten hatte sie die Arme reflexartig fester um Denise geschlungen.
    »Mit Absicht? Was soll das heißen? … Willst du damit sagen – nein. Bluey? Nein, das ist nicht wahr.«
    »Das hat Ric auch gesagt. Dass es vielleicht gar nicht wahr ist.«
    Carla sah, wie so oft seit jenem Tag, Bluey im Wintergarten vor sich. Sein ungepflegtes Haar und seine dreckige Kleidung, seine düstere Miene, als sie Nein gesagt hatte, das widerliche Gefühl seiner kratzig kleinen Hand an ihrem Knie. Ricardo hatte die Wahrheit gesagt. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein grässliches Bild, Bluey auf dem Asphalt zerquetscht. Ihr Entsetzen floss in Tränen der Schuld und des Bedauerns, und Antoneys unverbrämte Schilderung hatte auch nicht geholfen. Er ging zu ihr und versuchte, sie zu beruhigen. Dass sie so aufgelöst war, erstaunte ihn.
    »Wann ist das passiert?«, fragte sie nach gefühlt sehr langer Zeit.
    »Letztes Jahr, hat er gesagt.«
    »Oh, der arme Bluey. Es ist zu spät, zu spät.« Seine Hand, die an ihrem Rücken auf und ab fuhr, hoch an ihren Hals, brachte überhaupt keine Linderung. »Und wann hast du davon gehört?«
    »Erst heute. Ich wollte es dir ja schon früher sagen, aber …« (das gab Ärger, das war klar) »… nun, es war mir entfallen.«
    »Es war dir entfallen ? Wie kann – dir so etwas entfallen?« Sie schüttelte ihn ab, stand mit Denise im Arm auf, deren klebrige Hand an ihrem Ohr ein viel größerer Trost war. »Und der Gedanke, dass ich das sofort erfahren wollte, ist dir nicht gekommen?«
    »Ich sag’s dir ja jetzt, oder nicht?«, erwiderte er wütend.
    »Ich begreife dich nicht«, sagte sie. »Manchmal begreife ich dich wirklich nicht, Antoney«, und dann stieb sie mit Denise durch den Vorhang.
    Ohne Oscar war es in der Kirche zu still. Ohne die Schüler, den Unterricht. Fremde Echos meldeten sich. Antoney hatte die Proben hinunter in das Souterrain verlagert, weil er sich in der Halle im Erdgeschoss, neben dem zerbrochenen Fenster und der angrenzenden, betürmten Kammer, einsam und unbedeutend vorkam. Er arbeitete immer noch auf dem Bau, umso mehr, da er nun eine Familie ernähren musste. In seiner Freizeit kam er hierher, in das Studio mit den hohen Fenstern, an den Ort, der ihn aufgerichtet hatte, übte alleine zu Musik vom Band und experimentierte mit neuen Ideen. Aber ihm fehlten die Abfederung, die Stimulierung durch die anderen Tänzer, ihre Körper, die Instrumente. Er

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