Als würde ich fliegen
gefiedertes Solo »Bird« tanzt, ist der Zuschauer beinahe elektrisiert, und Matheus’ leicht gekürzter »Shango Storm« ist gleichermaßen energisch. Die beiden neuen Duos aber bleiben kraftlos und unbefriedigend. Aus den beiden Tänzern wird keine Einheit. »Leaving«, das erste Duo, wirkt mit seinen vielen Drehungen und den Solopartien, die aus dem Paar beinahe Rivalen machen, geradezu gekünstelt – das Stück gefällt sich zu sehr in seiner bemühten Intensität. Das zweite, eine Überarbeitung von »Blues House«, ist nur noch ein müder Abklatsch seiner früheren Form. Nichts ist übrig von der spektakulären Abfolge ebenso rascher wie überzeugender Vignetten (auch wenn die Produktion damals sehr an das Alvin Ailey American Dance Theatre mit seinen »Revelations« erinnerte). In jener Zeit wurde Matheus zu Recht »Englands Antwort auf Alvin Ailey« genannt. Wenn es ihm aber nicht gelingt, sich über das jetzige Maß hinaus zu steigern, muss man ihn wohl, so fürchte ich, als »Alvin für Arme« bezeichnen.
Antoney las die Kritik beim Mittagessen mit Riley im Westbourne Grove Café. Er reagierte, so sollte Riley es später Lucas beschreiben, mit Schweigen. Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch, neben seine Tasse, aber ihm war deutlich anzusehen, dass ihn das Urteil vernichtet hatte. Seine Augen funkelten vor Verletzung. Er presste die Lippen zusammen und schaute wortlos auf das farbige Glasfenster. Es war nicht die erste schlechte Kritik, die er hatte einstecken müssen (aber keine war bisher so böse gewesen). Noch vor vier Jahren hätte er die Zeitung weggeworfen, hätte der Autorin jegliche Kompetenz abgesprochen und wäre hochmütig seiner Wege gegangen. Doch die Arroganz war dahin, nun herrschte Traurigkeit, Untergangsstimmung. Es war der befürchtete Fingerzeig, dass seine Bemühungen um ein Weiterleben der Compagnie vergebens waren.
»Denken die Leute wirklich, dass ich ein ›Alvin für Arme‹ bin? Ihn bloß nachahme?«
»Natürlich nicht. Sie reizt den Vergleich doch nur aus, mehr nicht«, sagte Riley. »Das ist nicht einmal gut geschrieben. Man arbeitet sich nicht einfach an einer Liste ab.«
Er versuchte nach Kräften, Antoney davon zu überzeugen, dass die Adaption von »Blues House« gelungen sei, dass von Nachahmung nicht die Rede sein könne, das Stück originell und bezwingend sei. Insgeheim aber war auch er der Meinung, dass Antoney und Simone als Duo nicht überzeugten, das jedoch äußerte er nicht. Stattdessen sagte er, dass das neue Duo aufregend und intelligent sei und »Shango« als reines Solostück sogar noch stärker.
»Schwachsinn, Riley. Ohne die Mädchen ist das Stück tot. Meine Kraft allein reicht dafür nicht, nicht mehr.«
»Aber das ist überhaupt nicht wahr! ›Shango‹ ist dein bestes Stück – darin hast du nie enttäuscht.«
Antoney bestellte sich einen Brandy. Riley konnte sagen, was er wollte, er drang nicht zu Antoney durch. Auf jedes ermunternde Wort fand Antoney eine Erwiderung. Dann stieg er auf Rumcocktails um. Nachdem er besonders lange geschwiegen hatte, sagte er: »Hab ich dir jemals von Babalu erzählt, Riley? Babalu Aye, einer aus Shangos Kreis. Er hatte Lepra, lauter Wunden am Körper, er ging auf Krücken, hatte verkrüppelte Hände, trug Sackleinen. Sein Tanz ist ein Stolpern. Er bildet im Grunde die Gegenfigur zu Shango, er ist schwach, machtlos und krank – auch das könnte ich sein.« Er sah in die Ferne und drückte seine Zigarette aus. Am Tisch machte sich eine unheimliche Stimmung breit.
»Du solltest so früh noch nicht durcheinander trinken«, sagte Riley. »Du musst doch heute Abend tanzen.«
Riley sah Antoney dann erst wieder im Ledbury, als er im Shango-Kostüm auf die Bühne kam.
Simone erschien um fünf im Theater, die Worte spukten ihr ständig im Kopf herum. »Beinahe elektrisiert« – beinahe? Antoney tauchte weder zum Licht- noch zum Soundcheck auf, so fand beides in Absprache mit ihr und The Wonder statt. Obwohl die Show verrissen worden war, setzte Simone große Hoffnungen in den Abend. Schließlich war nicht ihr Tanzstil kritisiert worden, sondern Antoneys Choreografie. Sie würde es ihnen schon zeigen, und das war der richtige Ort dafür. Sie liebte das vertraute Interieur des Ledbury, den plüschigen Zuschauerraum und die Tropfenlampen, vor allem aber barg es die Erinnerung an ihre ersten Schritte zum Ruhm. Dies würde das große Finale, ihr Sprungbrett, denn Simone hatte sich still und leise
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