Als würde ich fliegen
Zeiten gegeben, in denen ich mir nicht sicher war. Aber dann hab ich das mit dem Lichtstrahl entdeckt. Ein Lichtstrahl kann eine Ehe tragen.«
»Was soll das denn heißen, Mum?« Carla reagierte in letzter Zeit ziemlich gereizt auf ihre Mutter. Während der Geburt hatte sie nämlich begriffen, dass ihre Mutter eine Lügnerin war. Diesen Schmerz vergaß man nicht.
»Ich hab einmal einen Film gesehen«, (sie sagte »Fillem«) »über einen Speerwerfer, der bei einem Unfall einen Arm verloren hatte«, erzählte Toreth. »Er war mit einer wunderbaren Frau verheiratet, die ihn die ganze Zeit über gepflegt hat, ich mein, sie hätte Charlotte geheißen, und als es ihm besser ging, hat sie ihn ermutigt, es wieder mit dem Werfen zu versuchen, mit dem anderen Arm … Setzen wir uns doch ein wenig.« Denise wurde aus dem Wagen befreit. »Aber er wollte nicht, der arme Mann war am Boden zerstört. Sein Name war Bobby. Er war gebrochen, am Ende. Das war ein amerikanischer Film.«
»Würdest du bitte auf den Punkt kommen?«
»Mache ich ja. Haben wir heute unseren schnippischen Tag?« Toreth drückte an ihrem Wollschal herum und klemmte ihn sich unters Kinn. »Na jedenfalls, Bobby wollte nicht«, fuhr sie fort. »Er wollte es nicht einmal versuchen. Er hat sich geweigert, monatelang – Denise, nicht die Blumen abpflücken! –, bis, und jetzt komme ich auf den Punkt, Charlotte eines Tages zu ihm gesagt hat, dass die Erinnerung an seinen fliegenden Speer für sie wie ein Lichtstrahl war. Und das hat gewirkt. Daraufhin hat Bobby wieder trainiert. Er hat gelernt, mit dem linken Arm zu werfen, und sogar wieder Preise gewonnen! Ach, das war so ein rührender Film, das hättest du sehen sollen.« Toreth verfiel in Schweigen.
»Ich sehe den Zusammenhang nicht«, sagte Carla.
»Ich bin noch nicht ganz fertig«, erwiderte Toreth. »Ich spreche jetzt über deinen Vater und mich. Denn nachdem ich diesen Film gesehen hatte, habe ich die Liebe, die wir zueinander empfunden haben, als Lichtstrahl verstanden. Die Tage ziehen dahin. Ich hab seine Socken gewaschen. Er hatte furchtbar viele Socken, und das hat mich wütend gemacht. Dann hatte er auch noch seine Fußnägel auf dem Boden verstreut, gleich neben dem Abfalleimer, und meine Gefühle waren dahin.« Sie legte Carlas Hand auf ihren Schoß, als ob sie sie mit ihren besseren Handschuhen wärmen wollte. »Aber das Gefühl, dieses ganz besondere Gefühl, ist immer zurückgekommen. Und jedes Mal habe ich zu mir gesagt: Ah, da ist er ja, der Lichtstrahl. Solange er wiederkommt, Liebes, und wenn es nur für eine halbe Stunde an einem Dienstagmorgen ist, solange du ihn in seinen Augen sehen kannst, weißt du, dass er dich noch liebt. Dann weißt du, dass es das noch wert ist.«
Carla beobachtete, wie ihre Tochter am Rand eines Tulpenbeets kauerte, mit ihrem Fäustling die Blüten befühlte und den Fäustling dann auszog. Dort also begann es, in diesem Moment, als Denise drei war, nachdem man sie in ihrem Kinderwagen zu Milchshake geschüttelt und sie hergebracht hatte, damit sie das Königreich der Blumen schaute, in dem jede Farbe lebendig war.
»Wie lange sollte man warten?«, fragte Carla.
»Worauf?«, fragte Toreth.
»Wie lange sollte man längstens warten, bis der Lichtstrahl wiederkommt?«
Toreth dachte angestrengt nach. »Auf diese Frage«, sagte sie nach einer Weile, »gibt es wohl keine Antwort.«
Es begann zu regnen, sie eilten zur Orangerie. »Ist alles in Ordnung«, fragte Toreth unter dem großen Schirm, »zwischen dir und Antoney?«
Am 8. Oktober 1973, am Morgen nach dem ersten der beiden Auftritte, die Simone und Antoney im Ledbury hatten, veröffentlichte Bunty Tate eine Kritik in der Times :
Lange ist es her, dass wir das wunderbare Midnight Ballet in seiner Bestform erleben durften, und leider ändert die aktuelle Show im Ledbury Theatre an dieser Feststellung nichts. Als die Compagnie vor sechs Jahren Englands Bühnen betrat, brachte sie mehr als nur frischen Wind in die hiesige Szene. Sie revolutionierte den Modern Dance mit einer Hinwendung zu den tänzerischen Formensprachen und Traditionen Afrikas, und die Musiker, die bei den ebenso gelungenen wie komplexen Choreografien von Antoney Matheus den Takt vorgaben, begeisterten kaum weniger. Mittlerweile aber beschränkt sich die Truppe auf einen Musiker und zwei Tänzer, Matheus und die stets virtuose Simone de Laperouse. Beide verfügen nach wie vor über eine große Bühnenpräsenz. Wenn de Laperouse ihr weiß
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