Als würde ich fliegen
eine wackelig erkämpfte Bewegung, doch auch das spielte keine Rolle. Dort sollte sie sein, nur sie. Ihr kamen die Tränen. Simones Taille, ihr Brustkorb so nahe an seinem Gesicht. Sein wundervoller Arm glitt an Simones Körper entlang. Carla konnte es nicht mehr ertragen. Sie schlüpfte an den Zuschauern in der vierten Reihe entlang und lief hinaus auf die Straße.
So versäumte sie das Zittern. Simone und Antoney zitterten gemeinsam, kurz, bevor er sie fallen ließ. Es war ein unglücklicher Sturz, bei dem Simone auf der Spitze ihres linken großen Zehs landete und sich der Zehennagel in die Nagelhaut bohrte. Sie schrie auf vor Schmerz. Antoney beugte sich, als ob er sie wieder heben und fortfahren wollte, aber dann richtete er sich schlagartig auf und schaute wie trunken ins Publikum. Als er erneut nach ihr griff, stürmte Simone von der Bühne, soweit das überhaupt ging. Antoney tanzte die beiden restlichen Minuten von »Blues House« allein.
Oscar hatte immer gesagt, und darin gab Riley ihm recht, dass jeder Improvisation eine Idee vorausgehen sollte, dass die Improvisation als solche trivial sei und nicht auf die Bühne gehörte. Und Antoneys zweiminütigem Schlusstanz ging keine Idee voraus. Sinnlos, kopflos bombardierte er das Publikum mit wilden Drehungen, lautem Getrampel und Sprüngen, die immer nur höher wollten. Die Füße hatten alles vergessen, das Gesicht war verzerrt und verzweifelt. Die Arme wedelten hektisch herum, als wollten sie Fliegen verscheuchen. Die Knie wackelten bei jeder Landung. Wäre Fansa Zeuge gewesen, er hätte es mit einer Kumina-Zeremonie in St. Thomas verglichen, bei der eine Frau, die sich an die Geister der ausgehöhlten Baumtrommeln verloren hatte, den Kopf eines Huhns abgebissen und bis in die Spitze einer Palme geklettert war. Ein Rampenlicht ging entzwei. Der Scheinwerfer irrte über die Bühne, hinter Antoney her. Als die Musik endete, war das Theater vollkommen still. Antoney war verwirrt, weil keine Zwiebeln in der Pfanne zischten. Verunsichert verbeugte er sich, richtete sich wieder auf und wartete. In dieser Haltung schloss sich der Vorhang vor ihm.
Eine der vielen Erinnerungen, die neuerdings Denise wieder einholten, spielte sich an jenem Abend ab, gleich, nachdem Antoney aus dem Theater gekommen war. Carla wartete mit ihrer Entscheidung auf ihn. Vieles hatte sie vorgehabt, als sie nach Hause geeilt war – seine Sachen zu packen, seine Schallplatten in den Kanal zu werfen und seine Notizen zu vernichten –, doch ihr war nur eines gelungen (nachdem sie endlich ihre besorgte Mutter losgeworden war). Sie hatte die Haut seiner Djembe mit einem Taschenmesser zerschlitzt. Es war viel unbefriedigender und auch anstrengender, als sie gedacht hatte.
Simone war von Ekow aus dem Theater eskortiert worden, nach einem längeren Kreischanfall, der von einer Schuhattacke eingeläutet worden war, just, als Antoney die Garderobe betrat – ihre Schuhe flogen, seine, The Wonders Turnschuhe. Simone fluchte eigentlich nie, und The Wonder wurde sehr traurig. »Du hast mich fallen lassen, du Schwachkopf, du hast mich fallen lassen! Verdammte Scheiße! The Wonder, hast du’s gesehen? Hast du das gesehen? Ich glaub’s einfach nicht, er hat mich fallen lassen. Du verdammter beschissener Säufer! Das habe ich nicht verdient, Antoney. Ich habe etwas Besseres verdient! Ich habe mehr verdient!« Gut möglich, dass Simone die Schuhe zuvor schon neben sich aufgebaut hatte, denn ihr Fuß lag auf der Kommode, und sie schien in ihrer Bewegung recht eingeschränkt. Antoney zeigte sich trotz ihrer Verletzung feindselig und uneinsichtig, gab sogar einige der Beleidigungen zurück, sodass Simone in dem Moment, als Ekow erschien, die Wasserschüssel, die ihren Fuß kühlen sollte, nach Antoney warf, seinen Kopf jedoch um wenige Zentimeter verfehlte und die Garderobe unter Wasser setzte.
Nachdem die Wunde gereinigt und versorgt worden war, gingen Simone und Ekow langsam durch die Dämmerung der Kulissen zum Ausgang. Antoney hatte sich vor der Garderobe auf die Holzkiste gesetzt, die ihn an Katherines Truhe erinnerte, und lauschte ihren vertrauten Stimmen nach.
The Wonder packte die Kostüme, zusammen mit einigen Requisiten, in eine Reinigungstüte. In seinen Gesten lag etwas Endgültiges. Antoney verfolgte sein Tun wie ein kleines Kind, das seine Eltern beobachtete. The Wonder riet ihm, nach Hause zu seinem Mädchen zu gehen, und beim Gedanken an Carla wurde Antoney gleich viel leichter ums Herz,
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