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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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verbarrikadiert waren, durch das größte Straßenbauprojekt, das London je gesehen hatte. Vor einer Kulisse aus reglosen Maschinen und staubigen Geröllhalden hüpften und plapperten die Kinder herum, manche in Hütchen und Regency-Kleidern, andere mit Zylinder, Pfeifenreiniger-Schmetterlingsflügeln oder orientalischen Westen. Batman und Robin waren auch dabei. Ein Paar saß im Schneidersitz auf einem Wagen, zu Füßen eines äthiopischen Königs, der von ausgestopften Löwen flankiert wurde. Die Kinder, die nicht kostümiert waren, liefen einfach so nach draußen, mit verrutschten Strümpfen und abgewetzten Schuhen, in kurzen Hosen und gemusterten Pullovern, in allen Farben, die der Kleiderschrank hergab. Sie bestaunten eine bulgarische Tanztruppe. Sie umringten einen Clown mit hohen Augenbrauen, er hatte Süßigkeiten und verknotete Ballons.
    Mit den Kindern kamen die Mütter, Väter, Onkel, die älteren Schwestern und lippenstiftbemalten Tanten, mit Glitter-Tübchen in den Handtaschen, damit sie sich die Wangen auffrischen konnten, wenn der Glitter vom Tanzen und der sporadischen Sonne weggeschwitzt war. Andere kamen von weit her, viele waren durch die Bauarbeiten aus ihren inzwischen abgerissenen Häusern in ein Sibirien namens Burnt Oak oder Ealing vertrieben worden und wollten ihre Freunde wiedersehen. Calypso-Musik drang aus Lautsprechern an den Straßenecken oder wurde aus den silbernen Bäuchen der Trinidad-Steel Pans herausgetrommelt. Es wurde eine lukrative Saison für Emily Kirk und ihre Blumenkolleginnen. An von Pferden gezogenen Landauern und offenen Wagen kräuselten sich Girlanden, Kränze und Sträußchen, und wer einen Maiskolben wenden oder ein gutes Jerk-Huhn machen konnte, stellte einen Grill auf die Straße und machte ein Feuerchen. Die lärmende Prozession schlitterte die Ladbroke Grove hinauf, hinüber bis zur Holland Park Avenue, am Notting Hill Gate vorbei, links in die Pembridge Road und zurück nach Chepstow. Vor zwei Jahren erst hatte sich eine schäbige, kleine, bunt gemischte Parade zwischen den Linienbussen hindurchwinden müssen; damals war der Trubel ein Ventil für die vielen Slum-Frustrationen gewesen und ein Signal, dass das Viertel mehr zu bieten hatte als Drogen, Rassenkonflikte, Betonmischer und Müllberge. Nun entwickelte sich das Ganze zu etwas, wofür man sich auf den Balkon setzte.
    Am Powis Square, bei Oscar, probte unterdessen das Midnight Ballet für seine Show im Ledbury Theatre, die in zwei Wochen stattfinden sollte. Sie hatten den Saal neben dem Hauptschiff im Erdgeschoss okkupiert. Die Kirchentür war nur angelehnt, das Dröhnen der Trommeln drang hinaus in den Hof. Jeder konnte sie hören, auch jeder Beamte von Kensington und Chelsea, der zufällig vorbeikam, aber das war Oscar längst egal.
    St. Bernard war in einem Zeitalter aktiven Gemeindegeistes erbaut worden, als das religiöse Zentrum zugleich auch Heimstätte für Trödelmärkte, Jugendclubs, Frauentreffen und Tanztees war. Am Ende des Saals waren eine Durchreiche, in der Carla gerne saß, und ein Lagerraum, der nun für die Kostüme genutzt wurde. An einer trüben Alabasterwand hing immer noch das Plakat für einen Porzellan- und Geschirrbasar, der hier 1948 stattgefunden hatte. Zwei Schiebefenster waren zerbrochen, es gab keine Spiegel, in den Boden hatte sich schwarzer Dreck eingefressen, der sich nicht wegschrubben ließ, und ein Nachbar hatte sich auch schon über den Lärm beschwert. Doch all das machte nichts. Benjamin war meilenweit von der Fabrik entfernt, Simone vom Cabaret, Antoney von der Baustelle, Milly vom Hotel. Sie waren, wie Simone es Lucas in der Grove Brasserie beschrieben hatte, »voller Energie, Bewegung, Leben«. Schweiß sammelte sich in der Halsmulde. Nichts war herrlicher, als morgens mit dem Gedanken wach zu werden, dass man wenigstens einige Stunden am Tag, von der Musik umfangen, hart trainieren würde, und der Druck war gewaltig, denn vieles musste für die Show noch erarbeitet werden.
    Von draußen drang der Trubel, während innen alle zuschauten, wie Antoney und Milly (die insgeheim seine Lieblingstänzerin war) versuchten, Elemente aus einem nigerianischen Tanz namens Apepe mit zeitgenössischen Bewegungsformen zu verschmelzen. Es lief nicht gut. Antoney hatte lernen müssen, dass die Bewegungsfolgen, die er in seinem Kopf hatte, nicht so zugänglich waren, wie es schien. Sie sprangen weg, wenn er nach ihnen griff. Wenn er auf der Westway-Baustelle einen Betonmischer

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