Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
Vom Netzwerk:
feststellen, dass er nicht in einer geraden Linie gehen kann, sondern seinen Begleiter in einer vagen Diagonale bedrängt, sodass man ihm ausweichen und auf die Straße treten muss. Für Denise war dies eine Quelle steten Zorns, und darum ging sie immer vor ihm her. Jakes Strategie bestand darin, kurz vor dem vermeintlichen Zusammenstoß stehen zu bleiben, um Lucas damit wortlos an das Gebot des geraden Gehens zu erinnern. An diesem Abend trieb Lucas besonders heftig ab.
    »Hups, wir schwanken ja ganz schön«, sagte Simone. »Ich hake mich lieber bei Ihnen ein.« Wegen des Größenunterschieds musste sie sich unterhaken.
    Sie gingen die verlassene Gasse entlang, die von der Portobello Road zur Tube-Station auf der Ladbroke Grove führte und nun, ohne das samstägliche Markttreiben, trübe und grünlich dalag. Nikotinstimmen drangen aus dem Park in der Nähe, der an den meisten Abenden von den etwas rustikaleren Trinkern frequentiert wurde. Lucas kam sich wie ein schäbiger Betrüger vor. Als sie das Ende der Gasse erreichten, als sie gerade in die geschäftige Straße eintauchen wollten, verspürte er wieder die Dringlichkeit, sich zu offenbaren – vielleicht würde ihm Simone im Gegenzug erzählen, was sie verbarg. Aber er wurde von einem heftigen Flügelschlagen abgelenkt, das aus einem Nest unter dem Bahnsteg kam, der sich über die Ladbroke Grove spannte (es gab zwei Stege, einen auf jeder Seite der Straße, die darunter so bekleckst wie ein schwarz-weißes Ölgemälde war). Louis Miguel war schon zu tief in ihm. Er bezweifelte, dass er Simone je wiedersehen würde. Und viel konnte sie ihm sowieso nicht mehr geben. Außer.
    Es könnte gut sein, dass West , quatschte Louis der Schnelldenker, der Dranbleiber in seinem Journalistenslang auf sie ein, daran interessiert sei, etwas Größeres über die Compagnie zu bringen. Wenn sie noch Kontakte hätte, würde sie ihm die vermitteln? Schweigen. Schließlich erwiderte Simone, dass sie mit niemandem aus jener Zeit mehr in Kontakt stand. »Sie sind alle fort oder fern, tot oder aber alt und menschenscheu«, sagte sie.
    »Warum der Name?« Sie standen kurz davor, sich endgültig voneinander zu verabschieden. »Warum Midnight Ballet?«
    Sie sah zu ihm auf, gegen das farbige Licht einer Straßenlaterne. Wieder dieser prüfende, argwöhnische Blick. »Darauf ist Carla gekommen«, sagte sie. »Es war ein Scherz. Weil wir immer so spät geprobt haben.«
    Er sah ihr nach, als sie zur Ticketschranke ging und in ihrer pinkfarbenen Manteltasche nach dem Fahrschein suchte, der Rücken unbeugsam, der Kopf hoch erhoben. Dennoch war etwas Schäbiges an ihr, der zerschlissene Saum, die altmodischen Abendschuhe. Wenn ein Mensch von einem fortgeht, dachte Lucas, ist das der Moment, in dem man ihn als Ganzen sehen kann, als Summe seines Lebens, seiner Erfahrungen, wie eine Hymne oder einen Abspann. Als ein Zug über seinen Kopf dröhnte, sah er Simone de Laperouse als Ganzes, und in ihrem Lied klang Wehmut mit. Sie durchquerte die Schranke in Richtung Stufen. Er wollte gerade gehen, da unterbrach sie, die Hand am Geländer, auf halber Strecke ihren Abstieg und fuhr herum.
    »Louis!«, rief sie.
    Sie trafen sich an der Schranke.
    »Da war noch jemand«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ein guter Freund von Antoney. Ein Zeitungskritiker. Er hat viel über uns geschrieben.« In dem Moment wirkte es, als fiele ihr sein Name nicht mehr ein. Aber doch. »Er hieß Riley. Edward Riley. Aber bei uns hieß er nur Riley.«

5
    Um die fünfgeschossigen Häuser auf der Ladbroke Grove, die Bonbonfassaden und die zehn Etagen der beiden Türme, die Lucas vom Bug der Silver aus sehen kann, winden sich Aberhunderte Balkone. An den Türmen sind sie klein und schachtelig und durch die obligatorischen grünen Netze vor Taubendreck geschützt. Richtung Holland Park neigen die Balkone zu Kurven und Verzierung. An manchen Stellen ist gleich das ganze Dach der Schau gewidmet, einem Zeitvertreib, der im Grove überall Sitte ist. Die Menschen, die Tauben, die lüsternen Liebenden, sie alle schauen hinaus auf die unscheinbare Windung des Grand Union Canal, auf die zahllosen Kirchen und den platanenbestandenen Grenzhügel. Sie ziehen einen Stuhl heran, stellen ein Glas Rotwein oder Bier neben sich, und vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an jenen Sonntag im Jahr 1967, als die Kinder auf die Straßen strömten, die damals durch den Bau des Westways mit seinen dräuenden titanischen Stelzen

Weitere Kostenlose Bücher