Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
Vom Netzwerk:
bediente oder einen Bohrer hielt, kamen ihm manchmal ganze Phrasen in den Sinn, vollständige, vollkommene, fließende Kadenzen; in diesen Momenten unterbrach er seine Tätigkeit, um sich Notizen zu machen. Genau dann aber entschwand ihm alles. Vielleicht waren die Bewegungen in seinem Kopf ja weiter nichts als Bewegungen in seinem Kopf – sie sollten nicht nach draußen kommen. »Gib dich nicht immer gleich geschlagen, Antoney«, erwiderte Oscar darauf. »In jeder Schöpfung steckt Zerstörung. Kein Konzept überlebt in seiner ursprünglichen, perfekten, vorgestellten Form. Man verliert immer etwas, und das ist kein Problem.« Antoney war nicht recht überzeugt. Er fragte sich immer noch, ob Oscar ihn nicht überschätzte. Er hatte Angstträume, in denen er von der Bühne stürzte und vom Publikum verlacht wurde.
    Es gab insgesamt vier Tänze (»Ballette«, wie Oscar es nannte). Zwei waren Weiterentwicklungen früherer gemeinsamer Projekte von Oscar und Antoney – ein »Shango«, inspiriert von Katherine Dunham, und eine überschwängliche Hommage an die Marshall-Abende namens »Blues House«. Die beiden anderen Stücke waren Neuschöpfungen, eines war vom Modern Dance geprägt und fußte auf der jamaikanischen Form des Kumina, und dann war da das schwierige, an dem sie gerade arbeiteten. Die Ballette waren Amalgame aus dem Wissen, das die einzelnen Mitglieder der Truppe besaßen, aus Oscars Erfahrungsschatz und Antoneys Talent, flüssige und dramatische Arrangements durch ganz unterschiedliche Formensprachen hindurch zu entwickeln. Kühn brachte er zackige burlesque Schultern, senegalesische Fußakrobatik und Merengue-Hüften mit Gesten zusammen, die er auf der Straße aufgeschnappt hatte, hier ein klassischer Sprung, dort ein wenig Skanken. Er hatte sich aufgrund seines Wagemuts, der scheinbar vor gar nichts Halt machte, in der Off-Szene schon einen Namen gemacht, nun aber war er wohl an eine Grenze gestoßen. Milly wiederholte die gleiche Phrase seit zehn Minuten.
    »Pass auf«, sagte Oscar und biss in eine überreife Birne, »du musst dir vorstellen, es wäre einfach, dann ist es einfach – als würdest du quer durch einen Raum gehen.«
    Antoney schaute seinen Lehrmeister von der Seite an. Carla saß barfüßig in ihrer Durchreiche und baumelte mit den Beinen, die Knöchel überkreuzt. Trotz seines Unmuts konnte sich Antoney dem Zauber ihres üppigen kupferbraunen Haars, das ihre Augen noch größer erscheinen ließ, wenn es aus dem Gesicht gebunden war, nicht entziehen. Carla kam zu jeder Probe, selbst an einem heißen Tag wie diesem, in Stiefeletten und ihrem gerupften Sechs-Shilling-Kunstfellmantel, unter dem im Sommer Shorts und eine geblümte Hippie-Weste erschienen. Sie hatte eine unbeschwerte Einstellung zum Tanzen, die man leicht als Ausdruck von Gleichgültigkeit missverstehen konnte. Sie trainierte nicht so viel wie die anderen und mischte sich auch nie in die kleinlichen Meinungsverschiedenheiten ein, die ständig ausbrachen. Sie beobachtete und blieb außen vor, und manchmal warf sie einen belanglosen, lockeren Kommentar ein, der die Stimmung besserte und den Ärger zerstreute. Als sie nun Simone angrinste, fragte sich Antoney wieder, ob es ein Fehler gewesen war, sie gehen zu lassen. Sie war sein Mädchen gewesen. Er musste an ihren warmen Körper denken, so nahe an seinem. Verlangen rührte sich.
    Simone mit ihren allgegenwärtigen Legwarmern war wie immer nahe am Zentrum des Geschehens. »Lass mich es mal versuchen. Ich glaub, ich hab’s. Komm, mach Musik.«
    Antoney gab Simone eine halbe Minute, um sich an der Bewegungsfolge zu versuchen, ging in einem engen Kreis um sie herum, dann blieb er abrupt stehen und lauschte. »Es ist die Musik.« Er ging zu den Trommlern. »Die Musik ist falsch, wir brauchen etwas … Fansa, spiel den Brukins.«
    »Du willst jetzt den Brukins?«
    »Ja, versuch’s mal.«
    Fansa und Benjamin hatten ihr Quartier am anderen Ende des Saals, beim Lagerraum. Fansa spielte gerne mit nacktem Oberkörper, seine Armbänder schwangen im Rhythmus mit, den langen, schmalen Kopf beugte er dabei nach hinten, als ob er mit aller Macht noch den zartesten Tönen folgen wollte. Am Spannreifen seiner Trommel waren drei metallene, gelöcherte Rasselbleche befestigt, die einen zischenden Klang machten. Benjamin kannte den Brukins nicht, und so schaute er in Habachtstellung hinter seiner Djembe zu. Der Rhythmus erschloss sich nicht gleich. Benjamin lauschte und sah dem Fortschreiten des

Weitere Kostenlose Bücher