Als würde ich fliegen
später, als sie verschlungen auf einer Gänseblümchenwiese nahe Guildford lagen, unsere Kinder werden dann ein Viertel Schotte, ein Viertel Ägypter, ein Viertel Spanier, ein Achtel Ire und ein Achtel Franzose. Die Verbindung hielt nicht, aber Ricardo hatte entdeckt, dass er sich leidenschaftlich gerne bewegte. Mit seinem großen, kräftigen Körperbau war er das, was Oscar einen hässlichen Tänzer nannte. Später sollte er eine Laufbahn als Wrestler einschlagen.
Seine angebliche Zwillingsschwester Rosina, mit hoher Stirn, trat dem Midnight Ballet als Tänzerin bei und wurde auch dessen Fotografin. Sie war jungenhaft, viel lauter als ihr Bruder und manchmal ziemlich gemein zu ihm. Von allen Tänzern war sie die schwächste, brauchte am längsten, um eine Bewegung zu erlernen, was Antoneys Geduld sehr strapazierte. Die meisten der noch existierenden Fotografien des Midnight Ballet, darunter auch die, die Lucas im Schrank entdeckt hatte, stammten von Rosina. Sie hatte als Teenager mit der Fotografie begonnen, sie wollte immer schon Wesen in ihrer Bewegung festhalten.
The Wonder (Sänger und zweiter Trommler)
The Wonder, ursprünglich aus Ghana, jobbte damals in einem Restaurant in Bayswater und sehnte sich nach einer Rückkehr ins Rampenlicht. Er hatte sich zuvor viele Jahre in Spanien und auf den Kanaren als Feuerschlucker verdingt. Dabei hatte er Talent und Fantasie bewiesen und seine Auftritte immer um einfallsreiche Nuancen ergänzt – wenn ihm beispielsweise ein Paar in den Flitterwochen nach einem Sonnenuntergangabendessen am Strand zusah, gab The Wonder (mit großem T, da war er sehr empfindlich!) der Frau den brennenden Stab und forderte sie auf, ihn an seinen Fuß zu halten. Er schluckte das Feuer nicht wirklich, hatte er Simone einmal verraten. Nein. Es handelte sich dabei um einen besonderen Stab, der in dem Moment erlosch, wenn man ihn in den Mund nahm, obwohl seine Mundwinkel trotzdem manches Mal angekokelt wurden. The Wonder hatte einen beachtlichen Bauch und ein breites, pockennarbiges Gesicht. Obwohl er älter als die meisten war, begriff er sehr rasch die komplizierten senegalesischen Schrittfolgen, die Ekow ihm zeigte.
Benjamin Omotunde Ojo (Trommler)
Benjamin war der Kerl, der Antoney aufgefordert hatte, lauter zu sprechen. Er war der Älteste der Truppe, und vielleicht auch der Unbeliebteste. Benjamin arbeitete damals für Heinz, in der Fabrik in Park Royal. Er hasste gebackene Bohnen und eigentlich alles von und an Heinz. Er wollte mit Frau und Kindern zurück nach Nigeria, hatte aber Angst vor den politischen Unruhen dort und auch nicht die Mittel dafür. Ihm ging es eigentlich nur gut, wenn er seine Djembe spielte. Missfiel ihm etwas, blähten sich seine Nasenflügel auf, und er rieb sich wild das rechte Knie. Einmal hatte er auch eine vernichtende Tirade gegen Simone de Laperouse losgelassen, die ungefähr so ging: Du hältst dich wohl für die Queen? Glaubst wohl, du bist was Besseres? Du bist kein Stück besser als ich. Du bist Scheiße, und du tanzt scheiße. Du bist steif wie ein Besen. Du hast so lange Ballett und dieses blödsinnige Modern-Stretching-Zeug gemacht, das sich Tanz nennt, dass in deinem Körper kein Zoll Afrika mehr ist! Simone war darüber so aufgebracht, dass sie den Proben eine Woche lang fernblieb. Trotzdem, Benjamin war ein kompetenter und souveräner Trommler, und manchmal brach er spontan eine Improvisation los, wuchtige Solos über den Beat hinweg. Danach, so Simone, wirkte er immer viel netter. Aber eigentlich fand sie ihn unerträglich.
Es war zwanzig vor neun. Simone hatte mittlerweile drei Glas Wein getrunken und sprach ein wenig undeutlich. Lucas ging mit ihr unter der schillernden Markise der Grove Brasserie hindurch in den violetten Portobello-Abend, in den sich nun ein armbandtragender Trommler, ein pockennarbiger Feuerschlucker, falsche Zwillinge und ein Kahlkopf namens Oscar Day mischten. Antoney und Carla waren in dem Sauerstoff, den er atmete und der auf Sternenstaub in ihm treffen würde. Die Kirche am Powis Square läutete unter ihrer neuen Geschichte wie zur Sonntagsmesse. All das war für Lucas viel greifbarer als der Funk und das Geschnatter aus der Market Bar, als die Beine von Scary Spice unter dem Westway oder die Silhouetten der Raucher vor dem Falafel King.
Der Weg zur Tube-Station war unstetig. Simone war sichtbar beschwipst, und Lucas hatte sowieso diesen seltsamen Schlendergang. Wer mit Lucas spazieren geht, wird ziemlich schnell
Weitere Kostenlose Bücher