Als würde ich fliegen
aus. Hielt er sie für seine Mutter? Glaubte er im Ernst, dass er den Rest seines Lebens auf ihre Kosten leben könnte? Selbst wenn sie seine Mutter gewesen wäre, hätte sie ihrem Sohn solche Freiheiten nicht zugestanden. Von nun an gab es kein Geld mehr. Sie würde ihn schon zwingen , endlich selbständig zu werden, anstatt durch diesen verdammten Schrank zu wühlen, durch diese alten Dinge, als wäre er Rentner oder Hobbyarchäologe. Wahrscheinlich hörte er, wie so oft in jüngster Zeit, gerade Sam Cooke oder Nina Simone statt seinem üblichen Hip-Hop-Gebrüll und hockte in diesem Schrank. Denise hasste Hip-Hop. In ihren Augen war Hip-Hop aggressiv, arrogant und testosterongetränkt. Sie hatte überhaupt keine besonderen musikalischen Vorlieben, ihr war die Stille noch am liebsten. Aber wenigstens lebte Scarface, oder wer auch immer gerade angesagt war, im Hier und Jetzt. Revolverschüsse im Hintergrund waren vermutlich die bessere Option, wenn man bedachte, worauf Lucas nun verfallen war. Fragen. Jeden Tag Fragen. Seltsame Fragen. Wie alt war »Antoney«, als er ertrank? Hatte sie Erinnerungen an gemeinsame Momente ihrer Eltern? Hatte sie die Adresse ihrer Großmutter auf Jamaika? »Als ich gesagt habe, du solltest dir einen Job suchen, hatte ich nicht an den MI 5 gedacht«, hatte Denise erst vorige Woche erwidert. Er rüttelte an ihrem Fundament, löste dessen sorgsam platzierte Steine. Er machte dumme, klischeehafte Bemerkungen wie »Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß nicht, wohin er geht« und »Der Mensch kennt sich selbst nicht genügend, wenn er nichts von seiner Vergangenheit weiß«. Stand er davor, der Nation of Islam beizutreten? War er für Sekten anfällig? Sie wusste es nicht. Selbst sein Gang regte sie auf.
Doch wenn sie ganz ehrlich war, machte sie sich Sorgen. Nein, seine Mum war sie nicht, aber seit jenem Tag im Jahr 1986, als sie sechzehn, Lucas zwölf und Toreth in das Pflegeheim gekommen war, hatte sich Denise für ihn verantwortlich gefühlt – und wie eine Mutter ihr großes, dem Spielzeug entfremdetes Kind nie wirklich als Erwachsenen sehen kann, sah auch Denise, trotz ihrer Wut, ihrer Erwartungen, ihren Bruder immer nur so, wie er an jenem Tag gewesen war, als stangendünnen zwölfjährigen Jungen.
Denise hatte das schmale Gesicht und die auffälligen Augen der Bruce-Seite, in ihrer Art aber war sie Florence ähnlich, an die sie sich vage als eine harsche, scharfzüngige Frau erinnerte. Sie hatte mit ihrer Großmutter väterlicherseits nie viel zu tun gehabt. Sie hatte von Toreth erfahren, dass Carla sie mit den Kindern zu streng fand. Sie war vermutlich inzwischen tot, so wie alle anderen auch. Der Tod hatte Denise ein Leben lang begleitet, es begann mit dem Tod ihrer Mutter, als Denise vier war und zum ersten Mal gespürt hatte, dass sie irgendwie für Lucas verantwortlich war. Hinter ihrem Schutzschild aus Blumenfolie hatte Denise sehr wohl verstanden, dass das Leben beschwerlich war.
Es gab da einige markante Bilder, die wie ungeliebte Möbel in ihren Erinnerungen herumstanden. Das markanteste war das ihrer Mutter, sie lag im Gras, mit Gänseblümchen im Haar, und trug nur einen Schuh. Toreth hatte mit Denise oft, wenn sie beide allein waren, über die Gänseblümchen gesprochen. Lucas war noch ein Baby, als Carla »verschied«, wie Toreth es ausdrückte, und so blieb er verschont. Toreth schilderte Denise immer in diesem merkwürdigen, schwafeligen Tonfall, der Denise so unangenehm war, wie Toreth in dem weißlichen Krankenzimmer gestanden und die feuchten Blumen aus dem Haar ihrer Tochter gepflückt hatte. Toreth stammte aus einer anderen Haarwelt, und darum hatte sie Carlas Korkenzieher, ihre üppige weiche Fülle immer geliebt. »Ich hab mir immer vorgestellt, darin wie in einem Wald herumzuspazieren«, erzählte sie, »und so hat es sich auch tatsächlich ein wenig angefühlt, als ich die Stiele herausgerupft habe: als ob ich in einem Wald umherginge und es sehr still wäre. Es ist erstaunlich, Denise, wie viel man von seinem Kind versteht, wenn es dahinscheidet. Das ist der Moment, in dem man es ganz und gar kennt, besser als je zuvor. Begreifst du das, Liebes?«
»Nein«, sagte Denise geradeheraus. »Dafür bin ich zu jung.«
Toreth hatte also die Gänseblümchen herausgezupft, und sie waren auf den desinfizierten Boden gefallen, dann hatte sie wieder nach den Kindern gesehen, denn in solchen Situationen müssen Mutter und Tochter die Rollen tauschen, sie wissen ja,
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