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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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aufwendigem Gepäck, Rumflaschen für Trankopfer und andere Gelegenheiten, zwei Zelten für den Pannenfall. Ruhig war ihre Reise nicht. Aber auf welchem Flug gibt es keine Turbulenzen? Auch hatten sie Schlafsäcke und Decken dabei, darunter Oscars treue Begleiterin, die Karodecke, ein Geschenk in letzter Minute, bevor er sie auf die Reise entlassen hatte. Carla hatte sie in Beschlag genommen.
    Sie saß nicht vorne, aber auch nicht hinten, sondern in der Mitte an einem Fenster, dort war es ihr am angenehmsten. Die Decke lag über ihrem Schoß, aber kalt war ihr nicht. Bluey saß, wie gewöhnlich, neben ihr, Antoney vorne auf dem Beifahrersitz, die Füße auf dem Armaturenbrett. Er unterhielt sich mit The Wonder über den Big-Band-Sound der Supremes. Weder Carla nach Bluey trugen viel zum allgemeinen Geplauder bei (Rosina: »Findet ihr nicht auch, dass die Telegrafenmasten hier anders aussehen?« Simone: »Josephine Baker hat jetzt einen Leoparden … Ehrlich . Ob ich nicht eine Möglichkeit finde, sie kennenzulernen?«). Wenn Carla schwieg, schwieg Bluey auch. Seit Calais hatte sich um sie beide ein Kraftfeld aus Ruhe aufgebaut, und niemand machte eine Anstrengung, sie ins Gespräch einzubeziehen. Sie waren halb vergessen. Carla und Bluey hätten ebenso gut in einem anderen Bus sitzen können – in die andere Richtung, wenn es nach Carla gegangen wäre, zurück nach Calais, zurück auf die Fähre, zurück zum Marble Arch, zurück durch die vertrauten Straßen bis zur Harrow Road. Ihr wurde erst während der Reise bewusst, wie sehr sie London liebte. Zuhause war der einzige Ort für eine Frau, die an ihrer Form von Reiseübelkeit litt. Alle fünfhundert Meter hätte sie sich übergeben mögen. Alle tausend Meter musste sie auf die Toilette, darum trank sie so wenig wie möglich, was nicht hilfreich bei der Übelkeit, den Turbulenzen und dem durchdringenden Geruch nach Abgas und Kuhhintern war. Je weiter der Bus voran in das Abenteuer brauste, umso mehr bedauerte sie, dass sie nicht noch rasch in Dover entflohen war. Was hatte sie sich dabei gedacht? Tanzen. Sechs Wochen lang auf Tournee. In ihrem Zustand.
    The Wonder fuhr an den Straßenrand. Längliche Wolken spannten sich wie Rippen über den Himmel. Es ist eine Schande, dachte sie, dass eine Frau, die schwanger ist, an die Erde gefesselt ist. Die Schwerkraft bestimmt ihr Sein. Sie bestimmt jeden Schritt, und nicht einmal die Füße genügen ihr. Die Schwerkraft will die Knie, die Hände, den Rücken, den Magen, und es wäre das Fügsamste, sich auf den Asphalt zu legen, oder besser ins Gras. Und genau das hätte Carla am liebsten getan, als sie aus dem Bus kletterte, um in den Straßengraben zu brechen. Genau das wollte sie seit drei Monaten jedes Mal tun, wenn sie eine Bühne betrat. Sie wollte nur noch auf den Boden sacken, wie ein Haufen Kleider, deren Träger sich in Luft auflöst. Jeder Sprung, jede Drehung, jeder Ausfallschritt kostete sie eine enorme Willensanstrengung, und während der Hebefigur von »Blues House« war sie voller Angst, dass Antoney die Gewichtszunahme bemerken könnte, die sie nach Kräften hinauszögerte. Sie hatte einmal von einer Balletttänzerin gehört, die fünf Kinder bekommen und fast bis ans Ende einer jeden Schwangerschaft getanzt hatte. Der Embryo hatte sich günstigerweise stets bis zum siebten Monat versteckt. Dies war ihr Vorbild. Und noch ging es gut. Ihre Kleider passten unverändert. Selbst ohne Kleider verriet ihr Bauch nichts. Aber sie musste aufpassen. Sie wollte ständig essen. Sie träumte von Sandwiches mit Spiegelei. Aber wenn sie ein Sandwich mit Spiegelei essen würde, müsste dem ein zweites folgen, und deshalb waren sie verboten. Während der ersten drei Monate hatte sie ohnehin das meiste Essen wieder ausgewürgt, doch seit Kurzem war es mit der Übelkeit vorbei. Bis zu dieser Reise.
    Antoney ahnte nichts. Sie kletterte wieder auf ihren Sitz, sah ihn dabei kurz an. Weiter ging es. Er versicherte ihr, sie seien bald da, dann klopfte er weiter mit seinem Schlangenlederschuh zum Takt gegen das Armaturenbrett. Er trug violette Röhrenhosen, farblich auf den Bus abgestimmt. Sein Hemd war bis zum Bauchnabel offen, sein Hut ein Seitenpuffer, falls der Kopf bei einer seligen Träumerei auf der weiten Straße nach hinten gegen die Kopfstütze schlug. Für wen hielt er sich? Jimi Hendrix, einen der Beatles? Es war so ungerecht, dass ein Mann seinen Samen einpflanzen und normal atmen konnte, während die Frau gezwungen

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