Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
Vom Netzwerk:
regnen. Oh nein, dachte der Mann. Es regnete und regnete und regnete, und dann kam der Donner. Der Mann war klatschnass. Er verlor eines der Ruder. Dann kam eine große Sturmwelle und warf sein Boot um. Er schwamm beinah zwanzig Minuten lang, bis er nicht mehr konnte, und schließlich sank er auf den Grund des Meeres und wurde nie wieder gesehen. Wenigstens gab es dort keine Haie. Für Denise hingegen war die Neuigkeit kaum mehr als ein Wassertropfen auf einer fremden Insel.
    Es wäre ihr vermutlich sogar gelungen, Antoney ganz zu vergessen, wären da nicht Toreths letzte Worte gewesen. Zwei Tage, bevor ihre Großmutter verstarb, besuchten Denise und Lucas sie im Pflegeheim. Sie saß in ihrem Rollstuhl. Der zweite Schlaganfall hatte ihre rechte Seite gelähmt, doch an jenem Tag schien es ihr nicht schlechter als sonst zu gehen, abgesehen davon, dass sie Seltsames von sich gab. Sie wolle, so sagte sie, die Llandudno-Hügel sehen, die weite, endlose See. Sie sagte: »Ich kann den Mann nicht aufhalten. Er kommt schon seit Langem auf mich zu, aber er bleibt immer wieder stehen, weil ihn etwas am Wegesrand ablenkt.« Lucas hielt ihre Hände. Toreth weinte. Als sie aufbrachen, rief Toreth Denise noch einmal in ihr Zimmer, zu einem letzten intimen Monolog. Dies jedoch war kein Monolog. Es war kurz, dafür umso schwerer, wie immer, wenn es zu viel zu sagen gibt.
    »Denise«, sagte sie mit nahem, abgestandenem Atem, mit ihrem kränklichen Anisgeruch. »Schreib deiner Großmutter in Jamaika und frag sie nach deinem Vater.«
    Das war alles. Ein halbes Jahr später schrieb ihr Denise. Weitere Monate vergingen, bis Florence schließlich antwortete, mit einem blauen Luftpostbrief und dem Poststempel aus St. Mary. Der Brief war in dem harschen Ton gehalten, den Denise in Erinnerung hatte: »Dein Vater ist von uns gegangen«, schrieb sie. »Am besten, ihr vergesst ihn und lebt euer Leben.« Dann aber offenbarte Florence noch etwas. Denise ließ den Brief daraufhin einige Momente nach unten sinken, bevor sie ihn schließlich zu Ende las. Sie hatte sich nie überwinden können, diese Information an Lucas weiterzugeben, und so hatte sie den Brief zwischen ihren Arbeitsunterlagen versteckt und nie wieder in die Hand genommen. Sie hatte sich, wie zuvor auch, um ihren Bruder gekümmert, und das Kapitel blieb, wie zuvor schon, abgeschlossen.
    Der Brief war noch da, er war an das Ende der Schublade unter dem Bett gerutscht. Als Denise an ihrem Stand auf Lucas wartete, kam ihr auf einmal der panische Gedanke, dass er ihn womöglich gefunden hatte. Vielleicht stellte er deshalb so viele Fragen. Vielleicht war er deshalb auch nicht gekommen. Vielleicht hatte er ihn entdeckt und seinen Inhalt nicht verdauen können und hatte – aber was? Sie wusste es nicht. Sie musste nach Hause. Sie bat den Algerier, ihren Stand im Auge zu behalten, während sie die Blumen zur Heilsarmee fuhr, dann machte sie so schnell wie noch nie zuvor Feierabend. Eilig trug sie alles zum Auto: die Eimer, die Ausgedienten, die Orchideen, die Einnahmen. Sie fuhr eine Abkürzung und umging den Verkehr auf der Ladbroke Grove. Sie war nicht mehr wütend, nur unruhig, und das war selten der Fall.
    Lucas war nicht zu Hause. Denise eilte durch die Kabine zum Schlafzimmer und zog die Schublade auf. Sie hetzte durch die Papiere, befühlte das Holz am Boden, in den Ecken, an den Seiten. Sie fand ihn nicht und hätte beinahe geweint. Erst, als sie die Schublade ganz leer geräumt hatte, erst dann sah sie ihn. Ja, dort war er, ganz hinten, in seinem blauen Luftpostumschlag. Ein offenes Kapitel. Ein Anlass zu Verstörung. Eine Reise in die Vergangenheit. Es gab eines nur zu tun. Denise stand auf und nahm ein Streichholz.

7
    Hinten die Djemben. Über ihnen das offene Dach. Vor ihnen die weite Straße, hinein in das perlende Licht der französischen Landschaft. Sie alle in einem aufgemotzten Bus mit goldenen Flügeln. Bluey hatte die Flügel in einer Werkstatt in Cricklewood aufgemalt, auf jede Seite einen, auf königlichem Purpur. Alle, die damals im Mai 1969 auf der kornumstandenen Straße von Calais nach Paris unterwegs waren, sahen einen Bus vorüberfliegen. Der Bus war nicht größer als ein Wohnwagen, ein Bremslicht fehlte, die Fenster waren unten, The Wonder saß am Steuer, mit einer Baseballkappe auf dem Kopf und Ingwer zwischen den Zähnen. Die anderen lutschten Obstpastillen. Hinten war alles vollgestopft – mit Kostümen, Requisiten, Instrumenten, Notproviant, Simones

Weitere Kostenlose Bücher