Als würde ich fliegen
wie die andere alles handhabt. Toreth wusste beispielsweise, dass Carla ihren Kindern jeden Tag etwas beibrachte, etwa den Namen der Kreuzdorn-Büsche mit ihren blauen Beeren, die am Uferweg wuchsen, oder die genaue Entfernung bis nach Dominica. Sie wusste auch, dass Carla, wenn Denise keine Vitamine essen wollte, diese zu einem Nichts schnitt oder karamellisierte, damit Denise wenigstens die Seele von Gemüse zu sich nahm. Aber es war nicht dasselbe, nicht für Denise. Sie weinte auch nicht bei der Beerdigung, weil sie immer noch überzeugt war, dass ihre Mutter aufstehen und wieder laufen würde, auch wenn man sie in eine Kiste gelegt hatte. Stattdessen tröstete sie Lucas und hob ihn irgendwann in ihre Elfenarme.
Ihr Vater kam nicht zur Beerdigung, wohl aber Florence. Sie wohnte damals in der Silchester Road, und Denise erinnerte sich, dass sie dorthin mitgenommen wurde. Florence stand an einem Baum, ein wenig von der Trauergemeinde entfernt. Sie hatte einen Schleier an ihrem schwarzen Hut, der das Gesicht zum Teil verdeckte. Bevor sie den Friedhof verließ, ging sie zu Toreth. Sie wechselten kein Wort, nur einen langen Blick, beide waren kalt und mitfühlend. Ich versuche ja zu verstehen, schien Toreth zu sagen, aber das ist nicht der richtige Moment, du blöde Kuh. Als Antoney einen Monat später die Böschung herunterkam, war Toreth weniger zugänglich. Auch das war ein markantes Bild in Denises Gedächtnis, die plumpe Gestalt ihrer Großmutter, die mit einem kleinen Küchenmesser in der Hand die Kajütentür öffnet. Toreth hatte Gemüse klein geschnitten und in Seelen verwandelt. Sie hatte gesehen, wie Antoney den Hang herunterkam, und als er klopfte, war sie ohne argen Hintergedanken zur Tür gegangen. Sie hatte ihm lediglich sagen wollen, er solle sich niemals wieder bei ihr blicken lassen. Doch als sie in sein Gesicht schaute, fand sie die Worte nicht. In seiner unerwünschten Gegenwart sah sie nur eines, die unabänderliche Abwesenheit ihrer Tochter, und das Haar, das nicht mehr wuchs. So hob sie den Arm, mit fremdem, vagem Ausdruck, und fuhr ihm mit dem Gegenstand, den sie zufällig in der Hand hielt, durchs Gesicht.
Dies war das letzte Mal, dass Denise ihren Vater sah. Frühere Erinnerungen an ihn waren spärlich. Er war eine Andeutung in den Augenwinkeln, ein reizbarer Schemen hinter den weichen Armen ihrer Mutter. Toreth gab diesem vagen Umriss Farbe, indem sie seinen Charakter schrittweise diffamierte. Er sei »eine üble Saat«, »eine üble Brut«, niemals hätte sie zulassen dürfen, dass sich Carla mit ihm einließ, und überhaupt sei er der Grund, warum sie ihnen vor der Zeit genommen worden war. Denise hatte oft den Eindruck, dass ihrer Großmutter nicht wirklich bewusst war, was sie bei ihren Monologen von sich gab oder zu wem sie sprach. Denise wollte nicht über das waldige Haar ihrer Mutter oder die verkommenen Gene ihres Vaters sprechen. Sie wollte überhaupt nicht sprechen, und schließlich rettete sie sich in ihren Garten.
Soweit sie wusste, war Antoney in den Siebzigerjahren mit seiner Mutter nach Jamaika zurückgekehrt. Toreth und Florence hatten über die Jahre einen lockeren Kontakt gehalten, bei dem es sich um die Kinder drehte. Manchmal sprach Toreth über Florence, sie habe ein hartes Leben gehabt und verdiene deshalb Mitleid. Eines Tages, Denise war zwölf, Lucas acht, setzte Toreth sie beide in die Essecke und verkündete, sie habe von Florence gehört, ihr Vater sei gestorben – nicht »verschieden«, sondern gestorben – er sei bei einem Bootsunfall ertrunken. Danach entstand eine verwirrte Stille. Lucas war wie stets der drängendere Frager. Was für ein Boot?, wollte er wissen. Eine Fähre oder ein großes Schiff? Konnte er nicht schwimmen? Gab es da Haie? Toreth sagte, sie wisse nichts Genaues, aber es sei doch sehr wahrscheinlich ein kleines Boot gewesen, denn wenn es ein Dampfer gewesen wäre, hätten sie davon in der BBC gehört. »Seid nicht traurig«, sagte sie. »Das ist keine einzige Träne wert.« Nun sei auch dieses Kapitel endlich abgeschlossen und sie könnten in Frieden weiterleben.
Denise hatte beobachtet, wie Lucas die Geschichte in seinen mageren Händen umhertrug. Sie nach seinem Sinn und Vermögen gestaltete. Es war in Jamaika, die Nacht war dunkel. Am Himmel Regenwolken. Ein Mann stieg in ein Boot. Er war ein guter Schwimmer, aber gegen das Gewitter hatte er keine Chance. Er segelte hinaus, und als er weit draußen auf dem Meer war, begann es zu
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