Als würde ich fliegen
Ferne Ausschau, rechnete aber eigentlich nicht mehr mit ihm. Ein Heer von Kaufwilligen zupfte an den Ständen herum, befingerte afrikanischen Schmuck, gebatikte Strampelanzüge und Secondhand- CD s. Denise hatte an diesem Tag bereits einen versuchten Raubüberfall und einen Mann aus Nigeria überstanden, der vergeblich nach einer schwarzen Blume verlangt hatte. Wirklich schwarze Blumen gibt es nicht, hatte sie ihm erklärt, nur die Illusion von Schwarz, wie bei Stockrosen oder Calla, die aber hatte sie nicht. Es missfiel ihr, wenn sie den Wunsch eines Kunden nicht erfüllen konnte. Alles in allem war sie sehr mieser Stimmung.
Morgens war sie wie üblich um vier Uhr aufgestanden, als Lucas noch schnarchte. Sie hatte ihr Kissen geschüttelt und ihr kompliziertes Bad genommen, sich dann auf den Weg zum New Covent Garden Blumenmarkt gemacht, der allerdings nicht in Covent Garden, sondern einer Lagerhalle auf der anderen Seite des Flusses lag. Dort, in Battersea, begann, wenn es noch dunkel war, der Tag von Denise. Sie fuhr mit ihrem taufeuchten, senffarbenen Auto die Park Lane entlang und ließ sich vom Zauber der Morgenröte betören. Das war ihr einziger Moment der Zerstreuung, und in diesen fiel auch der Anblick ihres Lieblingsbaums, derjenige draußen vor dem Dorchester, mit den vielen Lichtern. Dieser Baum strahlte durch seine Haltung eine ganz besondere Überzeugung aus. Es war immer Weihnachten in diesem flüchtigen Moment am Beginn ihres Arbeitstages, in der Gegenwart dieses Baumes.
Wenn sie am Markt ankam, im Anorak aus der düsteren Tiefgarage auftauchte, das Haar – sie war erst neunundzwanzig, doch es wurde schon grau – streng gescheitelt und zu zwei Zöpfen geflochten, verblich alles andere. Sie näherte sich den schweren Gummitüren und stieß sie mit der ihr eigenen verborgenen Verve auf. Die Blumenköpfe strahlten sie an. Wiesen aus Gelbtönen, eine Palette an Rosa, der unverkennbare Geruch weit gereister Rosen. Sie tauchte ein in ihr schönes Metier. Als Händlerin musste sie auf alles vorbereitet sein. Sie musste sich jede Gelegenheit vorstellen können, eine Hochzeit, ein Begräbnis, einen Liebhaber, den Schenkenden ebenso wie den Beschenkten. Sie musste die Blume vorhersehen, die der alte, nun einsame Mann kaufen würde, um sie auf das Grab seiner toten Frau zu legen, musste ahnen, wie der letzte Romantiker im November seine Leidenschaft ausdrücken oder was die Schwester der Braut wollte, die Weiß hasste. Denn solche Menschen gibt es. Es gibt Menschen, die um neun Uhr morgens zu Denise an den Stand kommen und eine Blume ohne Blattwerk wollen, am besten ohne Stiel. Sie musste für alles gerüstet sein. Und so eilte sie jeden Morgen mit einem Wagen durch die Lagerhalle und sammelte ihre wohlüberlegten Güter ein, beobachtet allein von den Reihen gläserner Gartenzwerge – Lucas hatte einmal versucht, ihr einzureden, sie wären lebendig –, dann fuhr sie die Park Lane zurück zu ihrem Platz unter den weißen Markisen auf der Portobello Road, einem guten Standort im Herzen des Marktes. Neben ihr befand sich ein Händler mit algerischen Seidentüchern, der jeden Tag Falafel aus dem Falafel King an der Ecke aß und ihr immer die Orange schenkte, die es dazu gab. Denise war ruhiger als Em. Denise war keine Marktschreierin. Sie war auf kühle Weise aufmerksam, beriet, wo es nötig war, ließ aber sonst ihre Blumen sprechen.
Wo verdammt war er? Sie hatte Lucas den ganzen Tag noch nicht gesehen. Donnerstags ging er doch immer »arbeiten«, aber selbst dann entdeckte sie ihn meist irgendwann vor Honest Jon’s und schleppte ihn für eine halbe Stunde an ihren Stand, damit er ihr half. Nicht, dass er eine große Hilfe wäre. Er war nicht gut im Einwickeln und verschwendete so viel braunes Papier wie eine unfähige Imbiss-Kraft, aber zumindest war er dann mit etwas Nützlichem, etwas Einkommensbezogenem beschäftigt. Das Essen der Heilsarmee war Denises erster großer Auftrag, und sie glaubte, dass sie schon jetzt einen schlechten Eindruck gemacht hatte. Sie musste die Blumen wohl selbst dort hinbringen. Dabei sollte Lucas das doch tun! Er war wie ein Kind, und es wurde immer schlimmer mit ihm. Er rauchte zu viel von diesem modrig riechenden Zeug. Das würde sie in Zukunft auf dem Boot nicht mehr dulden, dann musste er es draußen rauchen, auf dem Pfad. Er hatte keine Richtung, keinerlei Ehrgeiz. Er hinterließ Kekskrümel auf der Küchentheke. Er drückte die Zahnpasta am oberen, selbstsüchtigen Ende
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