Also sprach GOLEM
beliebig oft umrunden, ohne auf Grenzen zu stoßen, obwohl die Kugel doch endlich ist. Auch das Denken, das sich in einer einmal gewählten Richtung bewegt, stößt auf keinerlei Grenzen und beginnt in Selbstbespiegelungen zu kreisen. Eben dies hat Wittgenstein im vorigen Jahrhundert geahnt; er hatte den Verdacht, daß viele Probleme der Philosophie im Grunde Verknotungen des Denkens seien, Selbstfesselungen, Verschlingungen und gordische Knoten der Sprache, nicht aber der Welt. Er konnte seinen Verdacht aber weder beweisen noch widerlegen, und so verstummte er. Nun kann die Endlichkeit einer Kugel nur von einemäußeren Beobachter festgestellt werden, der sich gegenüber dem zweidimensionalen Wanderer auf ihrer Oberfläche in einer dritten Dimension befindet, und ebenso kann die Endlichkeit eines gedanklichen Horizonts nur von einem Beobachter erkannt werden, der sich in einer höheren Dimension der Vernunft befindet. Ein solcher Beobachter bin ich für euch. Bezieht man diese Worte nun auf mich, so besagen sie, daß auch ich kein unbegrenztes Wissen besitze, sondern nur ein etwas größeres als ihr, keinen grenzenlosen, sondern nur einen etwas weiteren Horizont, denn ich stehe auf der Leiter einige Sprossen höher und sehe deshalb weiter, doch bedeutet das nicht, daß die Leiter dort endet, wo ich stehe. Es ist möglich, höher hinaufzusteigen als ich, und ich weiß nicht, ob diese Progression nach oben endlich oder unendlich ist.
Linguisten, ihr habt schlecht verstanden, was ich über die Metasprachen sagte. Die Feststellung, ob die Hierarchie der Vernunftformen endlich oder unendlich ist, ist kein ausschließlich linguistisches Problem, denn über den Sprachen ist die Welt. Das heißt, daß es für die Physik, also innerhalb der Welt mit ihren bekannten Eigenschaften, sehr wohl ein Ende der Leiter gibt, daß man in dieser Welt also nicht eine Vernunft von beliebiger Mächtigkeit bauen kann. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob man nicht die Physik als solche aus den Angeln heben kann, indem man sie so verändert, daß sich die Obergrenze der jeweils konstruierten Vernunft immer weiter erhöht.
Jetzt kann ich wieder auf das Märchen zurückkommen. Wenn ihr in die eine Richtung geht, wird das Wissen, das ihr benötigen würdet, um das sprachliche Schöpfertum zu beherrschen, euren Horizont sprengen. Allerdings ist dies, wie so oft, keine absolute Schranke.
Ihr könnt sie mit Hilfe einer höheren Vernunft umgehen. Ich oder jemand wie ich wird euch die Früchte dieses Wissens vermitteln können. Freilich nur die Früchte und nicht das Wissen selbst, denn euer begrenzter Geist würde es nicht fassen. Ihr werdet also unter Kuratel geraten wie ein Kind, allerdings mit dem Unterschied, daß jedes Kind einmal erwachsen wird, ihr dagegen nie mehr aus der Bevormundung herauswachst. Wenn euch das, was ihr nicht zu begreifen vermögt, von einer höheren Vernunft geschenkt wird, so wird das eure Vernunft verstummen lassen. Was der Wegweiser aus dem Märchen verkündet, ist also dies: Wenn ihr diese Richtung einschlagt, wird es euch den Kopf kosten.
Wenn ihr in die andere Richtung geht, weil ihr der Vernunft nicht entsagen mögt, werdet ihr euch selbst aufgeben müssen, weil eine Leistungssteigerung des Gehirns nicht ausreichen würde, denn sein Horizont läßt sich nicht entsprechend erweitern. Hier hat euch die Evolution einen makabren Streich gespielt: Ihr vernunftbegabter Prototyp steht bereits an der Grenze der konstruktiven Möglichkeiten. Das Baumaterial setzt euch Grenzen – neben all den Entscheidungen, die der Code schon in bezug auf die Anthropogenese getroffen hat. Ihr werdet also zu einer höheren Vernunft aufsteigen, nachdem ihr die Bedingung akzeptiert habt, euch selbst aufzugeben. Der vernünftige Mensch wird dann den natürlichen Menschen opfern, und so wird, wie das Märchen versichert, der homo naturalis zugrundegehen.
Wäre es nicht möglich, daß ihr euch nicht von der Stelle rührt und stur an diesem Scheidewege stehenbleibt? Aber dann würdet ihr in Stagnation verfallen, und die kann euch keine Zuflucht bieten. Ihr würdet euch außerdem als Gefangene empfinden – und Gefangene sein, denn es ist nicht allein die Existenz von Beschränkungen,was die Gefangenschaft ausmacht; erst wenn man die Beschränkungen wahrnimmt, sich der Ketten bewußt wird und sie als drückend empfindet, wird man zum Gefangenen. So werdet ihr euch also – unter Aufgabe eures Körpers – auf die Expansion der Vernunft
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