Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
Vater fing an, kreativ zu werden.
Lange hatten wir es mit Vergesslichkeit und dem Verlust von Fähigkeiten zu tun gehabt, jetzt begann die Krankheit, neue Fähigkeiten hervorzubringen. Der Vater, derimmer ein ehrlicher Mensch gewesen war, entwickelte ein herausragendes Talent für Ausreden. Er fand schneller eine Ausrede als eine Maus ein Loch. Seine Art zu sprechen veränderte sich und zeigte mit einmal eine spontane Eleganz, die mir an ihm nie aufgefallen war. Schließlich gelangte er auch inhaltlich zu einer Privatlogik, die so frappierend war, dass wir zunächst nicht wussten, sollten wir lachen, staunen oder weinen.
»Was für ein schönes Wetter!«, sagte ich, als wir neben dem Haus standen mit Blick auf den Gebhardsberg und das über der Bregenzer Ache sich dahinschwingende Känzele.
Der Vater schaute sich um, dachte nach über das, was ich gesagt hatte, und erwiderte:
»Von zu Hause konnte ich das Wetter zuverlässig vorhersagen, von hier aus geht das aber nicht. Dadurch, dass ich nicht mehr zu Hause bin, ist mir das unmöglich geworden.«
»Die Situation hier ist doch praktisch dieselbe wie dort unten«, sagte ich überrascht, denn unser Haus steht neben seinem Elternhaus, fünfzig Meter entfernt oben auf dem Bühel.
»Ja, eben, da siehst du, was so ein Unterschied ausmacht!«
Er überlegte einen Augenblick und fügte hinzu:
»Außerdem wirkt es sich ungünstig aus, dass ihr mir ständig ins Wetter pfuscht.«
Am deutlichsten zeigten sich seine neuen Talente unter dem Stress, der entstand, wenn er nach Hause wollte. Esmuss um das Jahr 2004 gewesen sein, da erkannte er plötzlich sein eigenes Haus nicht mehr. Das geschah überraschend schnell, schockierend schnell, so dass wir es gar nicht fassen konnten. Lange Zeit weigerten wir uns zu akzeptieren, dass der Vater so etwas Selbstverständliches wie das eigene Haus vergessen hatte.
Eines Tages wollte sich meine Schwester sein Bitten und Drängen nicht länger anhören. Alle fünf Minuten sagte er, dass er zu Hause erwartet werde, das war nicht zum Aushalten. Unserem damaligen Empfinden nach überstiegen seine endlosen Wiederholungen jedes erträgliche Maß.
Helga ging mit ihm hinaus auf die Straße und verkündete:
»Das ist dein Haus!«
»Nein, das ist nicht mein Haus«, erwiderte er.
»Dann sag mir, wo du wohnst.«
Er nannte die korrekte Straße mit Hausnummer.
Triumphierend zeigte Helga auf das Hausnummernschild neben der Eingangstür und fragte:
»Und, was steht hier?«
Er las ihr die zuvor genannte Adresse vor.
Helga fragte:
»Was schließen wir daraus?«
»Dass jemand das Schild gestohlen und hier angeschraubt hat«, erwiderte der Vater trocken – was eine etwas phantastisch anmutende Deutung war, die aber keineswegs jede Schlüssigkeit vermissen ließ.
»Warum sollte jemand unser Hausnummernschild klauen und an sein Haus schrauben?«, fragte Helga empört.
»Das weiß ich auch nicht. Die Leute sind halt so.«
Das stellte er mit Bedauern fest, gleichzeitig zeigte er nicht den geringsten Anflug von Skepsis angesichts der Unwahrscheinlichkeit seiner Argumentation.
Zu einer anderen Gelegenheit antwortete er auf meine Frage, ob er denn seine eigenen Möbel nicht erkenne.
»Doch, jetzt erkenne ich sie!«
»Das will ich auch hoffen«, sagte ich ein wenig von oben herab. Aber da schaute er mich enttäuscht an und erwiderte:
»Du, das ist gar nicht so leicht, wie du denkst. Auch andere Leute haben solche Möbel. Man weiß nie.«
Diese Antwort war so unglaublich logisch und auf ihre Weise überzeugend, dass ich regelrecht verärgert war. Das gibt’s einfach nicht! Warum hatten wir diese Diskussion, wenn er in der Lage war, so etwas zu sagen? Von jemandem, der intelligent genug war für solche Nuancen, durfte ich erwarten, dass er sein Haus erkennt.
Aber Fehlanzeige!
In anderen Situationen war er weniger einsichtig und musterte mit argwöhnischer Genauigkeit alle Einzelheiten, bis er die Vermutung aufstellte, man habe die Zimmer so eingerichtet, um ihn hinters Licht zu führen.
Das erinnerte mich an den Thriller 36 Hours mit James Garner und Eve-Marie Saint, in dem James Garner einen amerikanischen Geheimdienstoffizier spielt, der wichtige Informationen über die Invasion der Alliierten besitzt. Die Nazis locken ihn in eine Falle und setzen ihn unter Drogen. Am Tag darauf, als er aufwacht, wird ihm mitgeteilt,er befinde sich in einem amerikanischen Militärhospital und der Krieg sei seit mehreren Jahren gewonnen, der Offizier habe
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