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Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil

Titel: Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil Kostenlos Bücher Online Lesen
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Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.
    Auch für einen einigermaßen Gesunden ist die Ordnung im Kopf nur eine Fiktion des Verstandes.
    Uns Gesunden öffnet die Alzheimerkrankheit die Augen dafür, wie komplex die Fähigkeiten sind, die es braucht, um den Alltag zu meistern. Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden. Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland), und mündete in die Krankheit, als sich die westliche Gesellschaft bereits in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand.
    Angesichts dieser mir während der Jahre heraufdämmernden Erkenntnis lag es nahe, dass ich mich mit dem Vater mehr und mehr solidarisch fühlte.
     
    Doch damals war ich noch nicht so weit. Ich bin ein langsam denkender Mensch. Ich stellte mich weiterhin ungeschickt an, weil ich nicht aufhören wollte zu glauben, dass ich die Verbindung des Vaters zur Realität durch Hartnäckigkeit wachhalten könne.
    Wenn er sagte, seine Mutter warte auf ihn, fragte ich harmlos:
    »Wie alt ist deine Mutter?«
    »Mhm, ungefähr achtzig.«
    »Und wie alt bist du?«
    »Also, ich bin 1926 geboren, dann bin ich –«
    »Ebenfalls ungefähr achtzig.«
    »Mhm – ich weiß schon, ich weiß schon –«
    »Deine Mutter ist tot«, sagte ich bedauernd.
    Er presste die Lippen aufeinander, nickte mehrmals langsam und erwiderte mit tiefversonnener Miene:
    »Ich habe es fast befürchtet.«
    Auf diese Weise kämpfte ich noch eine Zeitlang für die Aufrechterhaltung des gesunden Menschenverstandes. Doch nachdem ich die Nutzlosigkeit dieser Versuche ausreichend erprobt hatte, gab ich den Kampf verloren, und es zeigte sich wieder, dass auch derjenige gewinnen kann, der aufgibt. Tot oder lebendig? Wen kümmerte es, es machte keinen Unterschied. Indem ich akzeptierte, dass der Vater die Toten ein bisschen lebendig machte und sich selbst dadurch dem Tod ein bisschen näher brachte, gelang es mir, tiefer in sein Leiden einzudringen.
    Wir brachen jetzt alle zu einem anderen Leben auf, und sosehr dieses andere Leben meine Geschwister und mich verunsicherte, fassten wir doch eine gewisse Anteilnahme und ein wachsendes Interesse für das Schicksal, mit dem der Vater geschlagen war. Nachdem ich jahrelang auf nichts mehr neugierig gewesen war, was er zwischen Patiencenlegen und Fernsehen getrieben hatte, packte mich dasneue Interesse auch deshalb, weil ich spürte, dass ich dabei war, etwas über mich selbst zu erfahren – es war lediglich noch unklar, was.
    Der tägliche Umgang mit dem Vater ließ mich nicht mehr nur erschöpft zurück, sondern immer öfter in einem Zustand der Inspiriertheit. Die psychische Belastung war weiterhin enorm, aber ich stellte eine Änderung meiner Gefühle dem Vater gegenüber fest. Seine Persönlichkeit erschien mir wiederhergestellt, es war, als sei er der Alte, nur ein wenig gewandelt. Und auch ich selber veränderte mich. Die Krankheit machte etwas mit uns allen.

 
    Wo bist du am liebsten, Papa?
     
    Das ist schwer zu sagen. Ich bin halt doch am liebsten auf der Straße.
     
    Was tust du auf der Straße?
     
    Spazieren. Ein bisschen laufen. Aber ich bin nicht gut besattelt. Meine Schuhe haben nicht die richtige Übersetzung.
     
    Also, es gefällt dir am besten auf der Straße, obwohl du dort nur langsam vorwärtskommst?
     
    Ja. Weißt du, hier herinnen …
     
    Gefällt es dir hier herinnen nicht?
     
    Was soll ich hier tun? Ich weiß, die Straße ist nicht immer das Richtige, aber doch das Angenehmste, wenn sie trocken ist. Dort kann ich mich ein wenig umschauen, das tut keinem weh.

 
    Die Krankheit schritt voran, sehr langsam, aber deswegen nicht weniger unaufhaltsam. Der Vater war jetzt nicht mehr in der Lage, den Alltag ohne Gefahren für sich selbst zu bewältigen. Ohne die Fürsorge anderer wäre er verloren gewesen.
    Seine Frau und seine Kinder waren aus dem Haus im Oberfeld ausgezogen, deshalb bekam er Essen auf Rädern . Bald darauf erforderte der Verlust weiterer Fähigkeiten eine stundenweise Betreuung durch den Mobilen Hilfsdienst. Konkret

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