Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
während dieser Zeit unter Gedächtnisverlust gelitten. Die Täuschung ist perfekt inszeniert bis auf eine kleine Verletzung, die sich der Offizier wenige Tage vor dem Zusammentreffen mit den Nazis zugezogen hat und die – trotz der angeblich vergangenen Jahre – noch immer nicht verheilt ist.
Solche Ungereimtheiten müssen für meinen Vater über Jahre hinweg an der Tagesordnung gewesen sein. Er lebte in ständigem Misstrauen gegen die plausibel klingenden Erklärungen seiner Angehörigen. Ja: »Zu Hause sieht ganz ähnlich aus wie hier – nur ein wenig anders.«
Oft saß er allein im Wohnzimmer und seufzte. Mich erschreckte jedesmal, wie verwundbar er wirkte, wie verlassen. Er hatte sich verändert, sein bedrückter Gesichtsausdruck sprach nicht mehr von der Verzweiflung darüber, vergesslich zu sein, sondern von der tiefen Heimatlosigkeit eines Menschen, dem die ganze Welt fremd geworden war. In Kombination mit der Überzeugung, dass ein simpler Ortswechsel diese Heimatlosigkeit beseitigen werde, entstand eine Pattsituation, aus der sich der Vater oft tagelang nicht befreien konnte.
Wenn er sagte, dass er nach Hause gehe, richtete sich diese Absicht in Wahrheit nicht gegen den Ort, von dem er weg wollte, sondern gegen die Situation, in der er sich fremd und unglücklich fühlte. Gemeint war also nicht der Ort, sondern die Krankheit, und die Krankheit nahm er überallhinmit, auch in sein Elternhaus. Sein Elternhaus war nur einen Katzensprung entfernt, blieb aber trotzdem ein unerreichbarer Ort, und das keineswegs, weil der Vater es mit den Füßen nicht bis dorthin schaffte, sondern weil ein Aufenthalt im Elternhaus nicht einlöste, was sich der Vater davon versprach. Mit der Krankheit nahm er die Unmöglichkeit, sich geborgen zu fühlen, an den Fußsohlen mit. Krank wie er war, konnte er den Einfluss der Krankheit auf seine Wahrnehmung des Ortes nicht durchschauen. Und seine Familie konnte unterdessen täglich beobachten, was Heimweh ist.
Er tat uns unendlich leid. Wir hätten ihm so sehr gegönnt, dass er das Gefühl, zu Hause zu sein, zurückgewinnt. In gewisser Weise hätte das aber bedeutet, dass die Krankheit von ihm ablässt, etwas, was bei einer Krebserkrankung passieren kann, bei Alzheimer nicht.
Eine gewisse Erleichterung trat erst zwei Jahre später ein, als sich die Redewendung von den Zuständen, die zuerst schlechter werden müssen, bevor sie besser werden können, wieder einmal bestätigte.
Und erst Jahre später begriff ich, dass der Wunsch, nach Hause zu gehen, etwas zutiefst Menschliches enthält. Spontan vollzog der Vater, was die Menschheit vollzogen hatte: Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trostes nannte der Vater Zuhause , der Gläubige nennt ihn Himmelreich .
Wo man zu Hause ist, leben Menschen, die einem vertrautsind und die in einer verständlichen Sprache sprechen. Was Ovid in der Verbannung geschrieben hat – dass Heimat dort ist, wo man deine Sprache versteht –, galt für den Vater in einem nicht weniger existentiellen Sinn. Weil seine Versuche, Gesprächen zu folgen, immer öfter scheiterten, und auch das Entziffern von Gesichtern immer öfter misslang, fühlte er sich wie im Exil. Die Redenden, selbst seine Geschwister und Kinder, waren ihm fremd, weil das, was sie sagten, Verwirrung stiftete und un-heim-lich war. Der sich ihm aufdrängende Schluss, dass hier unmöglich Zuhause sein konnte, war einleuchtend. Und völlig logisch auch, dass sich der Vater nach Hause wünschte, überzeugt, dass das Leben dann sein würde wie früher.
»Ich habe mir hier die Hände gewaschen«, sagte der Vater einmal. »War das erlaubt?«
»Ja, das ist dein Haus und dein Waschbecken.«
Er schaute mich erstaunt an, lächelte verlegen und sagte:
»Meine Güte, hoffentlich vergesse ich das nicht wieder!«
Das ist Demenz. Oder besser gesagt: Das ist das Leben – der Stoff, aus dem das Leben gemacht ist.
Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einemKranken vor allem im Ausmaß der
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