Instinkt
Heute
8:05 Uhr
Ein leerer Rohbau tief im Herzen der City. Es ist früh, die ersten Sonnenstrahlen dringen durch die Fensterlöcher in den Wänden. Ich sitze in dem höhlenartigen Gewölbe und sehe zu, wie mein Blut auf den staubigen Zementboden tropft.
Ich rutsche ein Stück näher zur Wand, die Pistole baumelt noch an meinem Zeigefinger, ich muss mich konzentrieren, die Augen offen zu halten, und zwinge mich, meinen Blick auf das Blutbad vor mir zu fokussieren.
Drei Männer sind tot. Zwei liegen mit theatralisch ausgestreckten Armen auf dem Bauch, vielleicht vier Meter auseinander, aber Welten voneinander getrennt. Der dritte, ein großer Bursche in einem blutgetränkten himmelblauen Polohemd und Jeans, sitzt mit Kabelbinder gefesselt auf einem Stuhl. Er ist jünger als die anderen, der Kopf ist auf die Brust gesunken, und in seinem dichten blonden Haarschopf klafft dort, wo die Kugel ausgetreten ist, ein blutiges Loch.
Von draußen kann ich das schwache, gleichmäßige Rauschen des Verkehrs hören. Doch das scheint alles sehr weit weg zu sein, und je mehr ich lausche, desto schwächer wird es in der bleiernen Stille des Gewölbes – einer Stille, die wie eine dunkle, böse Macht vom Boden aufzusteigen scheint und alles Leben ringsum auslöscht. Gefangen im zweiten Stock dieses verlassenen Ortes verblute ich mit einer Kugel im Bauch und einer zweiten im Oberschenkel, die verhindert, dass ich mein Bein bewegen kann. Eine steife Kälte kriecht langsam an mir herauf und hüllt mich ein.
Ich habe oft über den Tod nachgedacht, allerdings immer auf eine eher abstrakte Art und nie angemessen respektvoll, obwohl er mich schon einige Male gestreift hat.
Doch jetzt sitze ich hier waidwund und hilflos. Wie bin ich nur in dieser elenden Gruft gelandet. Ich fühle den Tod unaufhaltsam näher kommen und weiß, es gibt keinen Ausweg mehr. Das ist am schwersten zu akzeptieren: die blanke Tatsache, dass mein Leben gleich zu Ende sein wird. Während Schock und Schmerz mein Inneres verkrampfen, frage ich mich flüchtig, ob es wohl noch jemanden gibt, der meinen Tod betrauert. Und ob sich in zehn Jahren irgendwer an mich erinnern wird.
Da höre ich es. Ein Geräusch. Direkt vor der Tür. Das Scharren eines Schuhs.
Himmel, ist der Alptraum immer noch nicht vorüber? Kommt jetzt erst der letzte Akt?
Ich beiße die Zähne zusammen und hebe mühsam meinen Revolver. Die Anstrengung ist fast zu viel für mich. Ich habe, glaube ich, fünf Schüsse abgefeuert, das heißt, eine Kugel müsste ich übrig haben.
Ein Schatten fällt in den Raum, und gleich darauf erscheint eine dunkelhaarige Frau in Jeans und Sweatshirt. Mit der einen Hand hält sie eine Dienstmarke hoch, in der anderen hat sie etwas, das aussieht wie ein Pfefferspray. »Polizei!« Ihre nervös angespannte Stimme hallt in dem Gewölbe wider. Sie will noch etwas sagen, aber da erst realisiert sie das Gemetzel und hält mit offenem Mund und schreckgeweiteten Augen inne, bis ihr Blick schließlich auf mich fällt.
Sie runzelt die Stirn: »Sean?«
Selbst in meinem kaputten Zustand bringe ich ein Lächeln zustande. »Hallo, Tina.«
»Was zum Teufel ist hier passiert?« Sie ignoriert es, dass ich noch immer meine Pistole auf sie richte, und kommt einen Schritt näher.
In diesem Moment geht die Ballerei los.
T EIL E INS D ONNERSTAG , 7:00 U HR V OR 36 S TUNDEN
EINS
Er war klein, unter einsfünfundsiebzig, und mit einer Statur, die man entweder schlank oder schmächtig nennen konnte, je nachdem, ob man es gut mit ihm meinte. Er trug eine billige graue Polyesterhose, ein gebügeltes weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, die er mit einem spießigen, eng sitzenden Knoten gebunden hatte. Das einzig Auffällige an ihm waren seine Haare, die ihm glatt und überraschend dick wie bei Prinz Eisenherz bis auf die Schultern fielen. Ansonsten wirkte er geradezu ungewöhnlich gewöhnlich, ein blasser, vielleicht ein wenig nerdiger junger Mann. Aber, und das wusste die frisch zum Detective Inspector beförderte Tina Boyd aus Erfahrung, die brutalsten Killer sahen oft aus wie der nette Nachbar von nebenan.
Vom Rücksitz des KIA Sorento, dessen dunkel getönte Scheiben sie gegen Blicke abschirmten, beobachtete sie, wie der zweiunddreißigjährige Alarmanlageningenieur Andrew Kent eine schwangere Frau passierte und sie dabei fast unmerklich musterte.
Andrew Kent. Sogar der Name war gewöhnlich.
Er trug einen kleinen Rucksack locker über einer Schulter, und Tina fragte sich, ob er
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