Alte Liebe: Roman
durch Europa und ihr Erstaunen, dass in Lyon ein etwa vierjähriges Mädchen fließend französisch gesprochen hatte. Ja und, hatte Lore damals gesagt, das war eben ein französisches Mädchen. Egal, du konntest das in dem Alter jedenfalls nicht, hatte Leni geantwortet. Schon spürte ich wieder die strafenden Blicke von Theo und Rita. Das hat mich beflügelt, und ich legte immer noch nach. Ich erzählte, wie Leni mal Englisch lernen wollte und partout nicht glauben wollte, was Lore ihr beizubringen versucht hatte, dass man nämlich going mit o spricht und doing mit u. So ein Quatsch, sagte sie und vermutete, dass ihre Tochter gar kein Englisch kann. Und ich erzählte von meinen ALDI -Besuchen mit Leni und von ihrem Ladendiebstahl und ich pries sie als eine tapfere Frau, die das Herz am richtigen Fleck hatte. Ich sagte, am linken, richtigen Fleck, was Theo sichtlich missfiel.
Die Krankenschwester, eine Hobby-Sängerin, sang noch ziemlich scheußlich ein Lied, ›Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst‹. Sie hat die hohen Töne nur mit Mühe getroffen. Dann gingen wir zum Essen zu Theos Lieblingsitaliener, wie er ihn nannte und zu dem er uns, wie er sagte, einlud.
Es war furchtbar, und ich beschloss danach, mit diesem Schwager für den Rest meines beziehungsweise seines Lebens nichts mehr zu tun haben zu wollen. Theo spielte von seiner Frau unterstützt weiter die Rolle des Trauernden. Er weinte, sprach von einem unersetzlichen Verlust, von der aufrichtig großen Liebe, die er zu seiner Mutter gehabt habe, und dann offenbarte er, dass er der Nächste sein werde, den wir zu Grabe zu tragen hätten, denn er wisse es schon seit drei Monaten, er habe Prostatakrebs. Er ersparte uns nicht die Details, er sprach von Inkontinenz, von einer Pipeline, die man ihm zu legen gedenke, von Windeln, die er künftig zu tragen hätte, und von der selbstverständlichen Impotenz, mit der er und Rita nun leben müssten, was bei dem aktiven Liebesleben, das sie beide gehabt hätten, eine besonders harte Strafe des Schicksals sei. Lügner, der du bist, dachte ich mir, du kriegst doch bei dieser allseits gelifteten Schrapnell von Gattin schon längst keinen mehr hoch.
Gloria und das Kind, das sich furchtbar langweilte, verabschiedeten sich. Man sehe sich ja bald zu schönerem Anlass, bei der Hochzeit. Ede hatte sich schon vor dem Essen mit Heidi verabschiedet, und wir saßen nun mit Theo, Rita und der Krankenschwester zusammen. Fast wäre es noch lustig geworden, weil die Krankenschwester, leicht beschwipst, für die hocherfreuten Italiener Arien zu singen begann. Doch das wollte Theo nicht dulden, und er erzählte erneut von seiner Krankheit. Endlich gingen sie, und ich saß mit Lore noch eine Weile allein dort. Als wir gehen wollten, stellte sich heraus, dass Theo nicht bezahlt hatte, von wegen Einladung. Ich verwies darauf, dass Theo das wohl nachholen würde, er sei ja wohl Stammgast. Das schon, sagte der Italiener, aber Kredit habe der bei ihm nicht mehr, der nicht. Also musste ich wohl oder übel zahlen. Das Geld sehe ich nie wieder.
Lore und ich gingen nach Hause, setzten uns auf die Terrasse und machten Leni zu Ehren noch eine Flasche ALDI -Champagner auf.
*
»Prost auf deine Mutter!«
»Ja, prost auf sie. Endlich hat sie ihren Frieden.«
»Theo!«
»Gott, ja. Danke, dass du ihm nicht in die Fresse gehauen hast.«
»›Ich lade euch zu meinem Lieblingsitaliener ein.‹«
»Das Geld siehst du nie wieder.«
»Natürlich nicht.«
»Ekelhaft! Wie kann jemand so mit seiner Krankheit hausieren gehen? Sag mir das.«
»Ich verstehe es nicht.«
»Klar ist es tragisch, aber –«
»Weißt du was, ich glaube das alles gar nicht. Er macht sich interessant, wie er es immer getan hat. Vielleicht hat er ein Wehwehchen beim Wasserlassen – aber jetzt plötzlich Krebs und Pipeline und Windeln?«
»Hör auf, bitte, nicht noch mal das alles!«
»Verzeih, er ist dein Bruder, aber er ist ein Arschloch.«
»Bruder oder nicht. Mich verbindet nichts mit dem. Schon als Kinder gingen wir eigene Wege, hatten keine gemeinsamen Interessen.«
»Und ich hab mir immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht. Obwohl ich heute sehe, wie selten es ist, dass sich Geschwister verstehen.«
»Mir stehen doch Freunde – Heidi zum Beispiel – viel näher als dieser Bruder.«
»Ja, Lore, jetzt sind wir nicht nur Vollwaisen, sondern auch familienlos.«
»Wir haben Gloria und das Kind.«
»Die sind mir auch sehr fremd, wie ich
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