Alte Meister: Komödie (German Edition)
sagte er. Aber Stifter war und ist ja kein Großer und er ist also für diesen Vorgang kein Beispiel. Stifter ist nur ein Beispiel dafür, wie ein Künstler jahrzehntelang als ein Großer verehrt, ja geliebt werden kann von einem Menschen, tatsächlich von einem verehrungs- und liebes süchtigen Menschen und doch nie ein Großer gewesen ist. In der Enttäuschung, die wir empfinden, wenn wir darauf gekommen sind, daß die Größe des Verehrten und Bewunderten und Geliebten gar keine Größe ist und auch niemals eine solche Größe gewesen ist, nur eine eingebildete Größe und eine tatsächliche Kleinheit, ja Niedrigkeit, fühlen wir den rücksichtslosen Schmerz des Betrogenen. Es rächt sich ganz einfach, sagte Reger, wenn wir uns dazu hergeben, ein Objekt einfach blind zu akzeptieren noch dazu über Jahre und Jahrzehnte und möglicherweise über ein ganzes Leben lang, ja gar verehren und lieben, ohne es immer wieder einmal auf die Probe gestellt zu haben. Hätte ich nur einmal wieder, sagen wir, vor dreißig oder vor zwanzig Jahren wenigstens oder vor fünfzehn, Stifter auf die Probe gestellt, diese späte Enttäuschung wäre mir doch erspart geblieben. Wir dürfenüberhaupt nicht sagen, dieser oder jener ist es und ist es dann für alle Zeit, wir müssen alle Künstler immer wieder auf die Probe stellen, denn wir entwickeln ja unsere Kunstwissenschaft und unseren Kunstgeschmack, das ist außer Zweifel. Von Stifter sind nur die Briefe gut, sagte Reger, alles andere ist nichts wert. Aber die Literaturwissenschaft wird sich sicher noch lange mit Stifter beschäftigen, sie ist ja ganz besessen von solchen Schreibidolen wie Adalbert Stifter, die, wenn sie schon nicht in die Prosaewigkeit eingehen werden, diesen Wissenschaftlern doch noch lange Zeit auf die angenehmste Weise zu ihrem zähen Brot verhelfen. Manchmal habe ich mir die Mühe gemacht und habe verschiedenen Leuten, sehr gescheiten und weniger gescheiten, sehr hellhörigen und weniger hellhörigen, ein Buch von Stifter zum Lesen gegeben, die Bunten Steine beispielsweise, den Kondor oder Brigitta oder eben die Mappe meines Urgroßvaters und habe die Leute dann gefragt, ob ihnen das Gelesene gefallen habe, ich forderte eine ehrliche Antwort. Alle diese Leute haben, von mir zu einer ehrlichen Antwort gezwungen, gesagt, es habe ihnen nicht gefallen, es habe sie unendlich enttäuscht und ihnen im Grunde nichts, aber auch gar nichts gesagt, sie wunderten sich alle nur darüber, daß ein Mann, der so kopflose Schriften schreibt und dazu auch noch gar nichts zu sagen hat, so berühmt sein kann. Dieses Stifterexperiment hat mir eine Zeitlang immer wieder Vergnügen gemacht, sagte er, daß ich eben die von mir so genannte Stifterprobe gemacht habe. Genauso frage ich manchmal die Leute, ob ihnen der Tizian, also beispielsweise die Kirschenmadonna , wirklich gefalle. Keinem einzigen der Befragten hat das Bild je gefallen, alle bestaunten es nur wegen seiner Berühmtheit, keinem sagte es wirklich etwas. Aber ich will nicht sagen, daß ich Stifter mit Tizian vergleiche, das wäre ja gänzlich absurd, sagte Reger. Die Literaturwissenschaftler sind in Stifter nicht nur verliebt, sie sind in Stifter vernarrt. Ich glaube, die Literaturwissenschaftler legen, was Stifter betrifft, absolut einen unzureichendenMaßstab an. Sie schreiben über Stifter immer soviel, wie über keinen anderen Schriftsteller seiner Zeit, und wenn wir lesen, was sie über Stifter schreiben, müssen wir annehmen, daß sie von Stifter überhaupt nichts oder wenigstens alles nur gänzlich oberflächlich gelesen haben. Die Natur ist jetzt hoch in Kurs, sagte Reger gestern, das ist auch ein Grund, warum Stifter jetzt hoch in Kurs ist. Alles, das mit Natur zusammenhängt, ist jetzt höchste Mode, sagte Reger gestern, also ist Stifter jetzt höchste, ja allerhöchste Mode. Der Wald ist jetzt höchste Mode, die Gebirgsbäche sind jetzt höchste Mode, also ist Stifter jetzt höchste Mode. Stifter langweilt alle tödlich und ist auf fatale Weise jetzt höchste Mode, sagte Reger. Die Sentimentalität überhaupt ist jetzt, das ist das Fürchterliche, höchste Mode, wie ja auch alles, das Kitsch ist, jetzt höchste Mode ist; ab der Mitte der Siebzigerjahre und bis heute in die Mitte der Achtzigerjahre sind Sentimentalität und Kitsch höchste Mode, höchste Mode in der Literatur, in der Malerei, auch in der Musik. Noch nie ist so viel sentimentaler Kitsch geschrieben worden, wie in den Achtzigerjahren heute, noch nie
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