Alte Meister: Komödie (German Edition)
Uhr früh gehe ich nicht etwa ins Bett, sagte er, ich setze mich an den Schreibtisch und schreibe den Aufsatz. Gegen drei Uhr früh gehe ich zu Bett, aber ich stehe gegen halb acht Uhr wieder auf. In meinem Alter brauche ich naturgemäß nicht mehr viel Schlaf. Manchmal schlafe ich nur drei oder vier Stunden, das genügt durchaus. Jeder Mensch hat einenBrotgeber , sagte er heuchlerisch, mein Brotgeber ist die Times . Wenn wir einen Brotgeber haben, ist es gut, wenn wir einen heimlichenBrotgeber haben, ist es noch besser, die Times ist mein heimlicher Brotgeber, sagte er gestern. Ich beobachtete ihn die längste Zeit, ohne ihn tatsächlich zu sehen. Er sagte gestern, daß er naturgemäß nicht alle, aber doch sehr viele Möglichkeiten gehabt habe in der Kindheit und in der auf die Kindheit folgenden Jugend und daß er sich schließlich für keine einzige dieser Möglichkeiten als Berufsweg entschieden habe. Da er nicht gezwungen gewesen war, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, weil er das nicht zu unterschätzende Erbe seiner Eltern angetreten habe, ist er jahrelang ungestört nur seinen Ideen nachgegangen, seinen Vorlieben, seinen Neigungen. Die Natur sei es von Anfangan nicht gewesen, die ihn angezogen habe, im Gegenteil, die Natur habe er gemieden, wo er nur konnte, die Kunst habe ihn angezogen, alles Künstliche , so er gestern, durchaus allesKünstliche . Von der Malerei sei er schon früh enttäuscht gewesen, sie war ihm von Anfang an die ungeistige unter den Künsten. Er las viel und leidenschaftlich, aber auf die Idee, selbst zu schreiben, sei er niemals gekommen, er hatte es sich nie zugetraut. Die Musik liebte er von Anfang an, in der Musik fand er schließlich zusätzlich, was er in der Malerei wie auch in der Literatur vermißte. Ich entstamme ja keiner musikalischen Familie, so er, im Gegenteil, meine Leute waren alle unmusikalisch und alles in allem total kunstfeindlich. Erst nachdem meine Eltern tot waren, hatte ich mich der Kunst als meiner ersten Vorliebe hingeben können. Die Eltern mußten gestorben sein, damit ich tatsächlich tun konnte, was ich wollte, sie hatten mir den Zugang zu den Vorlieben, zu meinen Leidenschaften immer versperrt gehabt. Mein Vater war ein unmusikalischer Mensch, sagte er, meine Mutter war musikalisch, wie ich glaube, sogar hochmusikalisch, aber ihr Mann hatte ihr mit der Zeit die Musikalität ausgetrieben . Meine Eltern waren entsetzlicheEheleute , sagte er, sie haßten sich insgeheim, konnten sich aber nicht trennen. Besitz und Geld hielten sie zusammen, das ist die Wahrheit. Wir hatten viele, schöne, teure Bilder an unseren Wänden hängen, sagte er, aber sie haben sie jahrzehntelang nicht ein einziges Mal angeschaut, wir hatten viele Tausende von Büchern in den Regalen stehen, aber sie haben in Jahrzehnten nicht ein einziges dieser Bücher gelesen, wir hatten einen Bösendorferflügel stehen, aber es ist jahrzehntelang nicht auf ihm gespielt worden. Wäre der Deckel dieses Flügels zugeschweißt gewesen, sie hätten es jahrzehntelang nicht bemerkt, sagte er. Meine Eltern hatten Ohren, aber sie hörten nichts, sie hatten Augen, aber sie sahen nichts, sie hatten wohl ein Herz, aber sie fühlten nichts. In dieser Kälte bin ich aufgewachsen, sagte er. Ich hatte keine Not zu leiden, aber ich war doch jedenTag zutiefst verzweifelt, sagte er. Die ganze Kindheit war nichts anderes gewesen als eine Verzweiflungszeit. Meine Eltern liebten mich nicht und ich liebte sie auch nicht. Sie verziehen mir nicht, daß sie mich gemacht hatten, lebenslänglich verziehen sie mir nicht, daß sie mich gemacht hatten. Wenn es eine Hölle gibt, und natürlich gibt es die Hölle, sagte er, dann ist meine Kindheit die Hölle gewesen. Wahrscheinlich ist die Kindheit immer eine Hölle, die Kindheit ist die Hölle, sagte er, gleich was für eine Kindheit, sie ist die Hölle. Die Leute sagen, sie haben eine schöne Kindheit gehabt, aber es war doch die Hölle. Die Leute verfälschen alles, sie verfälschen auch die Kindheit, die sie gehabt haben. Sie sagen, ich habe eine schöne Kindheit gehabt, und sie haben doch nur die Hölle gehabt. Je älter die Leute werden, desto leichter sagen sie, sie hätten eine schöne Kindheit gehabt, wo es doch nichts anderes gewesen ist als die Hölle. Die Hölle kommt nicht, die Hölle war , sagte er, denn die Hölle ist die Kindheit . Was es mich gekostet hat, aus dieser Hölle herauszukommen!, sagte er gestern. Solange meine Eltern gelebt haben, war es für
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