Alte Meister: Komödie (German Edition)
genau studieren, sind wir am Ende enttäuscht. Zerlegungs- und Zersetzungsmechanismus, sagte Reger, das ist es, das ich mir angewöhnt habe schon in frühen Jahren, ohne zu wissen, daß das mein Unglück ist. Selbst Shakespeare zerbröckelt uns ganz, wenn wir uns längere Zeit studierend mit ihm beschäftigen, die Sätze gehen uns auf die Nerven, die Figuren zerfallen vor den Dramen und machen uns alles zunichte, sagte er. Wir haben schließlich überhaupt kein Vergnügen mehr an der Kunst, wie auch am Leben nicht und sei es noch so natürlich, weil wir mit der Zeit die Naivität und mit ihr die Dummheit verloren haben. Aber wir haben uns statt dessen nur das Unglück zu eigen gemacht, sagte Reger. Heute ist es mir schon absolut unmöglich, Goethe zu lesen, sagte Reger, Mozart zu hören, Leonardo, Giotto anzuschauen, dazu fehlt mir jetzt schon jede Voraussetzung. Kommende Woche werde ich mit Irrsigler wieder einmal in das Astoria essen gehen, sagte Reger, solange meine Frau gelebt hat, bin ich mit ihr und mit Irrsigler wenigstens dreimal im Jahr ins Astoria essen gegangen, das bin ich Irrsigler schuldig, daß ich diese Astoriaessen fortsetze, sagte er. Wir dürfen Leute wie Irrsigler nicht nur ausnützen, wir müssen ihnen auch ab und zu eine Gefälligkeit erweisen. Und das beste ist, ich gehe mit Irrsigler ins Astoria essen. Ich könnte ja öfter mit seiner Familie in den Prater gehen, aber dazu habe ich nicht die Kraft, die Irrsiglerkinder hängen wie die Kletten an mir und reißen mir vor Überschwenglichkeit beinahe meine Kleider vom Leib, sagte er. Und mir ist der Prater so widerwärtig, wissen Sie, der Anblick aller dieser besoffenen Männer und Weiber, die vor den Schießbuden ihre billigen Witze machen und ihrer entsetzlichen Primitivität freien Lauf lassen, ich komme mir dann von oben bis unten beschmutzt vor, wenn ich im Prater gewesen bin. Der Prater von heute ist ja nicht mehr der Prater, der er in meiner Kindheit gewesen ist, derturbulente Vergnügungspark; heute ist der Prater eine widerwärtige Ansammlung ordinärer Leute, eine Ansammlung von kriminellen Existenzen. Der ganze Prater stinkt nach Bier und Verbrechen und wir begegnen in ihm nur der Brutalität und dem schamlosen Schwachsinn des gemeinen rotzigen Wienertums. Kein Tag, an dem nicht ein Pratermord in der Zeitung steht, täglich eine, meistens mehrere Pratervergewaltigungen. In meiner Kindheit war der Pratertag immer ein Freudentag gewesen und es duftete da im Frühling wirklich nach Flieder und Kastanien. Heute stinkt dort die proletarische Perversität zum Himmel. Der Prater, diese liebenswürdigste aller Vergnügungserfindungen, sagte Reger, ist heute nurmehr noch ein gemeiner Rummelplatz der Vulgarität. Ja, wenn der Prater noch so wäre, wie er in meiner Kindheit gewesen ist, sagte Reger, ginge ich mit der Irrsiglerfamilie hin, aber so gehe ich nicht hin, ich kann mir das nicht leisten; gehe ich mit der Irrsiglerfamilie in den Prater, bin ich auf Wochen hinaus zerstört. Noch meine Mutter ist mit ihren Eltern in der Kutsche in den Prater kutschiert worden und die Praterhauptallee entlanggelaufen im luftigen Seidenkleid. Diese Bilder sind Geschichte, sagte Reger, das ist alles vorbei. Heute müssen Sie froh sein, wenn Ihnen im Prater nicht in den Rücken geschossen wird, sagte Reger, ins Herz gestochen oder wenigstens die Brieftasche aus dem Rock gezogen. Die heutige Zeit ist eine durch und durch brutalisierte Zeit. Mit den Irrsiglerkindern im Prater, das habe ich nur einmal gemacht, nie wieder. Sie hängen an mir wie die Kletten und reißen mir die Kleider vom Leib und verlangen alle Augenblicke, daß ich mit ihnen auf der Geisterbahn fahre oder mit dem automatischen Ringelspiel. Mir ist dabei übel geworden, sagte Reger. Ich habe natürlich nichts gegen die Irrsiglerkinder, sagte Reger, aber ich halte sie nicht aus. Irrsigler allein, das geht, aber die ganze Irrsiglerfamilie, das geht nicht. Mit Irrsigler im Astoria an meinem Ecktisch mit dem Blick auf die leere Maysedergasse, das geht, aber mit derIrrsiglerfamilie in den Prater, das geht nicht. Jedesmal erfinde ich eine andere Ausrede, um nicht mit der Irrsiglerfamilie in den Prater zu müssen. Ein Praterbesuch mit der Irrsiglerfamilie erscheint mir wie ein Höllenbesuch. Ich vertrage auch die Stimme der Frau Irrsigler nicht, sagte Reger, ich halte diese Stimme nicht aus. Auch die Irrsiglerkinder haben ja fürchterliche Stimmen im Grunde, wehe, wenn diese Stimmen erwachsen werden,
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