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Alte Meister: Komödie (German Edition)

Alte Meister: Komödie (German Edition)

Titel: Alte Meister: Komödie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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tatsächlich der interessanteste Mensch von allen europäischen Menschen, denn er hat von allen anderen europäischen Menschen alles und seine Charakterschwäche dazu. Das ist das Faszinierende am Österreicher, sagte Reger, daß in ihm alle Eigenschaften aller anderen schon von Geburt an enthalten sind und sein eigenesCharakterschwaches noch dazu. Wenn wir zeitlebens in Österreich bleiben, sehen wir den Österreicher ja nicht, wie er wirklich ist, aber wenn wir, sagen wir, nach langer Abwesenheit wie eben ich selbst aus London nach Österreich zurückkommen, sehen wir ihn deutlich, dann kann er uns nichts vormachen. Der Österreicher ist der geniale Vormacher, der genialste Theatermacher überhaupt, sagte Reger, er macht alles vor, ohne es jemals in Wahrheit zu sein, das ist das Allercharakteristischste an ihm. Der Österreicher ist in der ganzen Welt beliebt, wenigstens bis heute ist er das und die ganze Welt hat sozusagen immer einen Narren gefressen an ihm, eben weil er der interessanteste europäische Mensch ist, gleichzeitig ist er aber doch immer auch der gefährlichste . Der Österreicher ist mit großer Wahrscheinlichkeit der gefährlichste Mensch überhaupt, gefährlicher als der deutsche, gefährlicher als alle anderen Europäer, der Österreicher ist unbedingt der allergefährlichste politische Mensch, das hat die Geschichte bewiesen und das hat ja auch immer wieder das größte Unglück in Europa und tatsächlich sehr oft auch in die ganze Welt gebracht. Einen Österreicher, der immer ein gemeiner Nazi oder ein stupider Katholik ist, dürfen wir als noch so interessant und einzigartig empfinden, an das politische Ruder dürfen wir ihn nicht lassen, sagte Reger, denn ein Österreicher am Ruder steuert unweigerlich immer alles in den totalen Abgrund. Eine schlaflose Nacht und immer nur von diesen politischen Skandalen in die allergrößte Erregung versetzt, sagte Reger dann. Ja, habe ich in aller Frühe gedacht, du triffst dich mit Atzbacher im Kunsthistorischen Museum, um ihm einen Vorschlag zu machen, und weißt ganz genau, daß du ihm einen völlig unsinnigen Vorschlag machst und wirst diesen Vorschlag machen. Eine Lächerlichkeit, die doch eine Ungeheuerlichkeit ist, so Reger. Zwei Monate lang ist Reger nach dem Tod seiner Frau nicht mehr aus seiner Wohnung in der Singerstraße herausgegangen, ein ganzes halbes Jahr hat er sich nach dem Tod seiner Fraumit keinem Menschen getroffen. Dieses ganze halbe Jahr hat er sich von der ordinären und entsetzlichen Haushälterin betreuen lassen und ist nicht ein einziges Mal in das Kunsthistorische Museum gegangen, in dem er jahrzehntelang jeden zweiten Tag mit seiner Frau gewesen ist, denke ich. Die Haushälterin hat ihm gekocht und hat ihm die Wäsche gewaschen, zwar alles haarsträubend schlampig , so Reger immer wieder, aber doch so, daß er nicht gänzlich verkommen ist. Der plötzlich alleingelassene Mensch verkommt ja sehr schnell, so Reger selbst, ich aß monatelang nichts als Grieskoch, so Reger, weil ich mit meinen nichtreparierten Zähnen kein Fleisch, aber auch kein Gemüse mehr essen konnte. Die Singerstraßenwohnung ist totenstill und leer geworden, so Regers eigene Zustandsschilderung, wie ich ihn nach dem Tod seiner Frau zum ersten Mal wieder getroffen habe im Ambassador, abgemagert, bleich, fast die ganze Zeit schweigend auf seinen Stock gestützt, mit nicht zugeknöpften Schuhbändern, die Winterunterhose war ihm aus den Hosenröhren gerutscht. Wir wollen gar nicht mehr weiterleben, wenn wir den uns am nächsten stehenden Menschen verloren haben, so er damals im Ambassador, aber wir müssen weiterleben, wir bringen uns nicht um, weil wir zu feig dazu sind, wir versprechen noch am offenen Grab, daß wir bald nachfolgen werden und dann leben wir ein halbes Jahr später noch immer und es graust uns vor uns selbst, so Reger damals im Ambassador. Siebenundachtzig Jahre alt ist seine Frau geworden, aber sie hätte sicher weit über hundert Jahre alt werden können, wenn sie nicht gestürzt wäre, so Reger damals im Ambassador. Die Stadt Wien und der Staat Österreich und die katholische Kirche, sagte Reger damals im Ambassador, sind schuld an ihrem Tod, denn hätte die Stadt Wien, der der Weg zum Kunsthistorischen Museum gehört, auf dem Weg zum Kunsthistorischen Museum Sand gestreut, wäre meine Frau nicht hingefallen und hätte das Kunsthistorische Museum, das dem Staat gehört, sofort und nicht erstnach einer halben Stunde, die Rettung

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