Alte Meister: Komödie (German Edition)
schließlich mit ihrem musikalischen Leichengestank bevölkern, mein lieber Atzbacher, die Musikindustrie hat die Menschen einmal auf dem Gewissen , hat am Ende mit der größten Wahrscheinlichkeit die gesamte Menschheit auf dem Gewissen, nicht nur die Chemie und der Müll, das sage ich Ihnen. Die Musikindustrie ist der Menschenmörder, die Musikindustrie ist der eigentliche Massenmörder der Menschheit, die, wenn die Musikindustrie so weiter macht, wie bisher, schon in Jahrzehnten keine einzige Chance mehr hat, mein lieber Atzbacher, so Reger erregt. Einem Menschen mit einem empfindlichen Gehör ist es ja bald nicht mehr möglich, auf die Straße zu gehen; gehen Sie doch in ein Kaffeehaus, gehen Sie in ein Gasthaus, gehen Sie in ein Kaufhaus, überall müssen Sie, ob Sie wollen oder nicht, Musik hören und fahren Sie mit der Bahn und fliegen Sie mit dem Flugzeug, die Musik verfolgt Sie heute überall hin. Diese pausenlose Musik ist das Brutalste, das die derzeitige Menschheit zu ertragen und zu erdulden hat, so Reger. Von der Frühe bis in die Nachthinein wird die Menschheit mit Mozart und Beethoven, mit Bach und Händel vollgestopft, sagte Reger, Sie können hingehen, wo Sie wollen, Sie entkommen dieser Tortur nicht. Es ist ja geradezu ein Wunder, sagte Reger, daß nicht auch schon im Kunsthistorischen Museum pausenlos Musik zu hören ist, das fehlte gerade noch. Nach dem Begräbnis meiner Frau habe ich mich sechs Wochen in der Singerstraßenwohnung eingesperrt und nicht einmal die Haushälterin hereingelassen , so Reger. Unmittelbar nach dem Begräbnis war er in den nahegelegenen Tempel gegangen und hatte eine Kerze angezündet, ohne zu wissen, warum eigentlich und das Merkwürdige ist, daß er aus dem Tempel heraus gleich in die Stefanskirche hineingegangen ist und auch dort eine Kerze angezündet hat, ohne auch in diesem Fall zu wissen, warum eigentlich. Nachdem er in der Stefanskirche eine Kerze angezündet gehabt hatte, war er ein Stück die Wollzeile hinuntergegangen in dem Gedanken, sich umzubringen. Ich hatte aber keine genaue Vorstellung davon, wie mich umbringen und schließlich habe ich den Gedanken, mich umzubringen, wenigstens auf kurze Zeit aus meinem Kopf vertreiben können , so Reger zu mir. Ich hatte die Wahl zwischen einem tagelangen und vielleicht wochenlangen Hinundhergehen in der Stadt, oder einem wochenlangen Eingesperrtsein , so Reger zu mir, ich entschied mich für das wochenlange Eingesperrtsein . Er habe nach dem Begräbnis seiner Frau keinen einzigen Menschen mehr sehen und zuerst auch gar nichts mehr essen wollen, aber tagelang nur klares Wasser zu trinken, hält kein Mensch länger aus als drei, vier Tage, und er war auch tatsächlich sehr schnell abgemagert und hatte in der Frühe aufeinmal kaum mehr die Kraft aufzustehen, das war ein Signal , so Reger zu mir, und ich habe wieder zu essen angefangen und ich habe dann auch wieder angefangen, mich mit Schopenhauer zu beschäftigen, gerade mit Schopenhauer waren ich und meine Frau ja beschäftigt gewesen, wie sie hinter mir gestürzt ist und sich den sogenannten Schenkelhals gebrochen hat , soReger nachdenklich. Ich führte in diesen sechs Wochen Eingesperrtsein nur ein paar Telefongespräche mit meinem Vermögensverwalter und las Schopenhauer, das rettete mich wahrscheinlich, so Reger, wenngleich ich mir nicht sicher bin, ob es richtig gewesen ist, daß ich mich gerettet habe , wahrscheinlich, so Reger, wäre es besser gewesen, ich hätte mich nicht gerettet, ich hätte mich umgebracht. Aber allein die Tatsache, daß ich soviel Laufereien im Zusammenhang mit dem Begräbnis gehabt habe, hat mir ja gar keine Zeit gelassen, mich umzubringen. Wenn wir uns nicht gleich umbringen, bringen wir uns ja nicht mehr um, das ist das Entsetzliche, sagte er. Wir haben das Verlangen, genauso wie unser geliebtester Mensch, tot zu sein, aber wir bringen uns doch nicht um, wir denken daran, aber wir tun es doch nicht, sagte Reger. Merkwürdigerweise habe ich in diesen sechs Wochen keinerlei Musik vertragen, ich habe mich nicht ein einziges Mal ans Klavier gesetzt, einmal in Gedanken einen Versuch gemacht mit einem Stück aus dem Wohltemperierten Klavier, aber diesen Versuch gleich wieder aufgegeben , die Musik war es nicht, die mich in diesen sechs Wochen gerettet hat, Schopenhauer war es, immer wieder ein paar Zeilen Schopenhauer , so Reger. Auch Nietzsche war es nicht, nur Schopenhauer . Ich setzte mich im Bett auf und las ein paar Zeilen Schopenhauer
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