Alte Meister: Komödie (German Edition)
und dachte darüber nach und las wieder ein paar Schopenhauer-Sätze und dachte darüber nach, so Reger. Nach vier Tagen nur Wassertrinken und Schopenhauerlesen, aß ich zum ersten Mal ein Stück Brot, das so hart gewesen ist, daß ich es mit einer Fleischhacke vom Wecken herunterhacken habe müssen. Ich setzte mich auf den singerstraßenseitigen Fensterschemel, diesen scheußlichen Loos-Sessel, und schaute auf die Singerstraße hinunter. Stellen Sie sich vor, Ende Mai und es war ein Schneetreiben, sagte er. Ich scheute die Menschen. Ich betrachtete sie von der Wohnung aus in der Singerstraße unten hin- und herlaufend, vollbepackt mit Kleidungsstücken und Lebensmitteln und esekelte mich vor ihnen. Ich dachte, ich will nicht mehr zu diesen Menschen zurück, zu diesen Menschen nicht und andere gibt es ja nicht, so Reger. Im Hinunterschauen auf die Singerstraße ist es mir bewußt geworden, daß es andere, als die da unten auf der Singerstraße hin- und herlaufenden Menschen, nicht gibt. Ich schaute auf die Singerstraße hinunter und haßte die Menschen und ich dachte, ich will nicht mehr zu diesen Menschen zurück, so Reger. In diese Gemeinheit und in diese Armseligkeit will ich nicht mehr zurück, sagte ich mir, so Reger. Ich zog mehrere Laden aus mehreren Kommoden und schaute hinein und nahm immer wieder Bilder und Schriften und Korrespondenzen meiner Frau heraus und legte alles nacheinander auf den Tisch und schaute nach und nach alles an, mein lieber Atzbacher, da ich ehrlich bin, muß ich sagen, daß ich dabei weinte. Ich ließ meinem Weinen plötzlich freien Lauf, Jahrzehnte habe ich nicht mehr geweint und aufeinmal ließ ich meinem Weinen freien Lauf, so Reger. Ich saß da und ließ meinem Weinen freien Lauf und ich weinte und weinte und weinte und weinte, so Reger. Jahrzehnte habe ich nicht geweint, seit der Kindheit nicht mehr und aufeinmal ließ ich meinem Weinen freien Lauf, sagte Reger zu mir im Ambassador. Ich habe ja nichts zu verbergen und nichts zu verschweigen, sagte er, mit meinen zweiundachtzig Jahren habe ich nicht das geringste mehr zu verbergen und zu verschweigen , sagte Reger, so habe ich auch nicht zu verschweigen, daß ich mich aufeinmal ausgeweint habe und immer wieder ausgeweint, tagelang habe ich mich ausgeweint, so Reger. Ich saß da und schaute die Briefe an, die meine Frau mir im Laufe der Zeit geschrieben hat und las die Notizen, die sie im Laufe der Zeit gemacht hat und weinte mich aus. Wir gewöhnen uns natürlich in Jahrzehnten an einen Menschen und lieben ihn Jahrzehnte und lieben ihn schließlich mehr als alles andere und ketten uns an ihn und wenn wir ihn verlieren, ist es tatsächlich so, als hätten wir alles verloren. Immer habe ich geglaubt, die Musik ist es, die mir alles bedeutet, manchmalja auch, die Philosophie ist es, die hohe und die höchste und die allerhöchste Schriftstellerei, wie überhaupt, daß es ganz einfach die Kunst ist, aber alles das, die ganze Kunst, wie auch immer, ist nichts gegen diesen einen einzigen geliebten Menschen. Was haben wir diesem einen einzigen geliebten Menschen alles angetan, sagte Reger, in wieviele Tausende und Hunderttausende von Leiden haben wir diesen Menschen, den wir so, wie keinen andern, geliebt haben, hineingestürzt, wie haben wir diesen Menschen gepeinigt und haben ihn doch wie keinen zweiten geliebt, sagte Reger. Wenn der von uns wie kein zweiter auf der Welt geliebte Mensch tot ist, läßt er uns mit einem fürchterlichen schlechten Gewissen zurück, sagte Reger, mit einem entsetzlichen schlechten Gewissen, mit welchem wir nach seinem Tod existieren müssen und in welchem wir eines Tages ersticken werden, sagte Reger. Alle diese Bücher und Schriften, die ich in meinem Leben gesammelt und die ich in die Singerstraßenwohnung gebracht habe, um alle diese Regale damit vollzustopfen, haben am Ende nichts genützt, ich war von meiner Frau alleingelassen und alle diese Bücher und Schriften waren lächerlich. Wir glauben, wir können uns dann an Shakespeare oder an Kant anklammern, aber das ist ein Trugschluß, Shakespeare und Kant und alle andern, die wir im Laufe unseres Lebens als die von uns so genannten Großen aufgebaut haben, lassen uns genau in dem Augenblick im Stich, in welchem wir sie so notwendig gehabt hätten, so Reger, sie sind uns keine Lösung und sie sind uns kein Trost, sie sind uns aufeinmal nur ekelhaft und fremd, alles, das diese sogenannten Großen und Bedeutenden gedacht und dann auch noch geschrieben
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