Alte Meister: Komödie (German Edition)
größtes Unglück, er hat mich auch befreit. Mit dem Tod meiner Frau bin ich frei geworden, sagte er, und wenn ich sage frei , so meine ich gänzlich frei, zur Gänze frei, vollkommen frei , wenn Sie wissen oder wenigstens ahnen, was das heißt. Ich warte nicht mehr auf den Tod, er kommt von selbst, ohne daß ich daran denke, kommt er, mir ist es völlig gleich, wann. Der Tod des geliebten Menschen ist ja auch die ungeheuere Befreiung unseres ganzen Systems, sagte Reger jetzt. Mit diesem Gefühl, daß ich jetzt vollkommen frei bin, existiere ich jetzt schon längere Zeit. Ich kann jetzt alles an mich herankommen lassen, wirklich alles, ohne daß ich mich dagegen wehren muß, ich wehre mich nicht mehr, das ist es , so Reger jetzt. Den Weißbärtigen Mann anschauend, sagte er, den Weißbärtigen Mann habe ich tatsächlich immer geliebt, Tintoretto habe ich nie geliebt, aber doch den Weißbärtigen Mann von Tintoretto. Über dreißig Jahre schaue ich das Bild an und es ist mir immer noch möglich, es anzuschauen,kein anderes Bild hätte ich über dreißig Jahre lang anschauen können. Die Alten Meister ermüden rasch, wenn wir sie skrupellos anschauen und sie enttäuschen immer, wenn wir sie einer eingehenderen Betrachtung unterziehen, wenn wir sie sozusagen zu einem rücksichtslosen Objekt unseres kritischen Verstandes machen. Dieser tatsächlichen kritischen Betrachtungsweise hält ja keiner dieser sogenannten Alten Meister stand, so Reger jetzt. Leonardo, Michelangelo, Tizian, das zerfließt uns ja unglaublich schnell in den Augen und stellt sich am Ende doch nur als eine wenn auch noch so geniale dürftige Überlebenskunst als dürftiger Überlebensversuch heraus. Goya ist da schon ein hartnäckigerer Brocken, sagte Reger, aber auch Goya nützt uns und bedeutet uns am Ende nichts. Alles hier im Kunsthistorischen Museum, das ja gar keinen Goya hat, sagte Reger jetzt, bedeutet uns am Ende, nämlich an dem entscheidenden Punkte unserer Existenz , nichts mehr. An allen diesen Bildern stellen wir doch, wenn wir sie eindringlich studieren, früher oder später, eine Unbeholfenheit, ja tatsächlich selbst in den allergrößten und allerbedeutendsten Schöpfungen einen Fehler, wenn wir unnachgiebig sind, einen gravierenden Fehler fest, der uns alle diese Bilder nach und nach verleidet, wahrscheinlich weil wir unseren Anspruch zu hoch angesetzt haben, so Reger. Die Kunst insgesamt ist ja auch nichts anderes als eine Überlebenskunst, diese Tatsache dürfen wir nicht außer acht lassen, sie ist der alles in allem doch immer wieder auf selbst den Verstand rührende Weise gemachte Versuch, mit dieser Welt und ihren Widerwärtigkeiten fertig zu werden, was ja, wie wir wissen, vor allem immer wieder nur durch den Gebrauch von Lüge und Verlogenheit, von Heuchelei und Selbstbetrug möglich ist, so Reger. Diese Bilder sind voller Lüge und Verlogenheit und voller Heuchelei und Selbstbetrug, es ist, wenn wir von ihrer sehr oft genialen Kunstfertigkeit absehen, nichts anderes in ihnen. Alle diese Bilder sind außerdem Ausdruck der absoluten Hilflosigkeit desMenschen, mit sich und dem, das ihn zeitlebens umgibt, fertig zu werden. Das drücken ja alle diese Bilder aus, diese einerseits den Kopf beschämende, andererseits denselben Kopf bestürzende und zu Tode rührende Hilflosigkeit, so Reger. Der Weißbärtige Mann hat über dreißig Jahre meinem Verstand und meinem Gefühl standgehalten, so Reger, für mich ist er aus diesem Grunde das Kostbarste, das hier im Kunsthistorischen Museum ausgestellt ist. Als ob ich das vor über dreißig Jahren schon gewußt hätte, habe ich mich vor über dreißig Jahren zum ersten Mal auf diese Bank hier gesetzt, genau dem Weißbärtigen Mann gegenüber. Alle diese sogenannten Alten Meister sind ja Gescheiterte, ohne Ausnahme sind sie alle zum Scheitern verurteilt gewesen und in jeder Einzelheit ihrer Arbeiten kann der Betrachter dieses Scheitern feststellen, in jedem Pinselstrich , so Reger, in dem kleinsten und allerkleinsten Detail . Davon ganz abgesehen, daß alle diese sogenannten Alten Meister immer doch nur ein Detail ihrer Bilder wirklich genial gemalt haben, kein einziger von ihnen hat hundertprozentig ein geniales Bild gemalt, das ist keinem von diesen sogenannten Alten Meistern jemals gelungen; entweder sie scheiterten am Kinn oder am Knie oder an den Augenlidern, so Reger. Die meisten scheiterten an den Händen, es gibt im Kunsthistorischen Museum nicht ein einziges Bild, auf dem eine
Weitere Kostenlose Bücher