Altenberger Requiem
schlechte Erinnerung daraus wurde.
Rott, alter Junge, dachte ich. Was ist aus dir geworden? Ein verliebter Philosoph …
Wonne schien wie ich in Gedanken versunken zu sein. Still lächelnd saß sie am Steuer. Ich sah sie von der Seite an. Sie merkte es natürlich, blickte aber nicht herüber. Sie genoss es, von mir betrachtet zu werden. Ich senkte den Blick auf ihre wohlgeformte, verheißungsvolle Figur, auf ihre Beine und beobachtete, wie sie ihre Füße auf den Pedalen bewegte. Sie hatte die Schuhe wieder abgestreift, fuhr barfuß. Jetzt griff ihre rechte Hand zum Schaltknüppel. Sie nahm den Fuß vom Gas, drosselte die Geschwindigkeit und brachte den Wagen in Schritttempo, bevor sie rechts ranfuhr und hielt.
»Hier lösen wir die nächste Aufgabe«, sagte sie.
Ich sah mich um. Wir befanden uns in einem Vorort von Wermelskirchen. Neben dem komplett eingeschieferten Restaurant »Alte Post« hatte sich der ultramoderne Neubau einer Sparkassenzweigstelle breitgemacht, mit einer knallroten Flagge um Aufmerksamkeit heischend. Ein Stück weiter hatte sich ein Autohändler niedergelassen. Auch hier wehten Fahnen - allerdings gelbe. Man hatte sich auf Jahreswagen eines französischen Fabrikats spezialisiert.
»Wo sind wir?«, fragte ich.
»Kölner Straße. Tente. Kurz vor Wermelskirchen.«
»Und was sollen wir hier machen?«
Ich löste den Gurt und versuchte, zwischen den Sitzen nach der Mappe zu angeln. Wonne war jedoch schneller und nahm sie an sich.
»Es geht um einen alten Film. Komm, steig aus. Wir müssen eine Querstraße rein.«
Ein alter Film …
Ich war sicher, davon nichts in den Unterlagen gelesen zu haben. Doch Wonne hatte sich schon die Schuhe angezogen und stieg aus. Ich verließ den Wagen ebenfalls und bemerkte am Zaun des angrenzenden Grundstücks etwas, das aus meiner Kindheit herüberzuwinken schien. Einen Kaugummiautomaten. Außen etwas verrostet, aber innen bunt gefüllt. Ob man da noch Groschen reinwerfen musste?
Ein Stück weiter glänzten drei Aluminiumsäulen. Dazwischen waren Schilder angebracht, die auf nahe gelegene Industriebetriebe hinwiesen. Wonne folgte der Abzweigung von der Hauptstraße weg nach rechts. Wir gelangten an eine Brücke, auf beiden Seiten mit Leitplanken verstärkt. Sie überspannte einen großen Graben, fast so tief wie eine Schlucht.
»Hier gab es mal eine Bahnlinie.« Wonne deutete hinunter. »Und ganz in der Nähe gab es sogar mal einen Bahnhof ›Tente‹, der aber heute aufgegeben ist. Man konnte mit dem Nahverkehrszug nach Köln oder Leverkusen fahren.«
Von den Bahnschienen war von hier oben aus nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich lagen sie längst nicht mehr da. Zu erahnen war jedoch eine moosige Betonkante. Wahrscheinlich der Rest des Bahnsteigs.
Es war wie ein Blick in eine andere Welt. Ich fragte mich, wie es sein musste, da unten herumzulaufen. Man kam sich vermutlich vor wie in einer riesigen langen Höhle. Mit ineinandergeschlungenen Ästen, die sich oben zusammenschlossen.
»Müssen wir da runter, um die Aufgabe lösen?«, fragte ich. Es würde nicht schwer sein, hinunterzukommen. Neben der Brücke war der Abhang leicht zugänglich.
»Nein. Komm weiter.«
Erst kamen wir an Wohnhäusern vorbei, dann wurde das Sträßchen schmal, war aber noch asphaltiert. Wir gelangten ins Grüne. Vor uns lag eine kleine Senke, in der sich Bäume drängten. Nach und nach wurde dazwischen ein Fachwerkhaus sichtbar.
»Was hast du eben von einem Film erzählt?«, fragte ich.
Wonne schien in Gedanken versunken zu sein. »Film?«
»Ja, als wir losgegangen sind, hast du gesagt, es ginge in der Aufgabe um einen Film.«
»Ja, stimmt.«
Sie legte einen Schritt zu, als wolle sie für die Walking-Weltmeisterschaft trainieren. Wir kamen dem Gebäude immer näher. Es lag quer am Ende des Sträßchens. Zwei Stockwerke. In der Mitte befand sich eine grün gestrichene Eingangstür, auf der die berühmten Initialen der Heiligen Drei Könige standen. Mit weißer Kreide geschrieben und in einer fast übertriebenen Deutlichkeit.
Hohe Bäume überragten das fleckige dunkelgraue Ziegeldach. Vor dem Haus parkte ein Wagen. Ein alter Opel, der wahrscheinlich mal dunkelrot gewesen war. Jetzt hatte er überall Rostflecken.
»Bleib stehen«, rief Wonne und hielt mich fest.
Was passierte hier?
Irgendetwas sagte mir, dass wir uns nicht mehr auf der Rallye befanden, aber auch nicht auf dem Weg zu Wonnes Wohnung, sondern in einer ganz anderen Situation. Eine, die mich fatal an meine
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