Altenberger Requiem
Anruf spontan ausgeschaltet. Jetzt dauerte es ewig, bis es hochfuhr.
»Da hinten liegt noch was«, rief Wonne. Sie schien sich schnell von ihrem Schreck erholt zu haben.
»Nicht«, rief ich. Doch es war schon zu spät.
Immer noch barfuß, kniete sie ein Stück weiter auf dem Baumstamm und angelte etwas aus dem Dickicht. Eine Handtasche.
»Lass das liegen. Du darfst nichts anfassen. Geh zurück an den Bach zu deinen Schuhen.«
Endlich war mein Handy betriebsbereit. Ich wählte sofort 110 und erklärte dem Mann auf der anderen Seite, was los war: Eine Tote lag auf dem Altenberger Waldspielplatz.
Als ich aufsah, hatte Wonne immer noch die Tasche in der Hand.
»Leg sie zurück. Die Polizei kommt gleich.«
Sie nickte, ließ die Tasche hinter den Baumstamm rutschen und kam zu mir.
»Hör mir bitte mal zu«, sagte ich, und es klang strenger, als ich es wollte, doch Wonne schien es nicht zu stören.
»Ja?« Jetzt war ihr Blick wieder bewundernd. Ein bisschen wenigstens.
»Wenn dich die Beamten fragen, wie das alles hier abgelaufen ist«, sagte ich, »dann erklärst du, dass du die Tasche zuerst gesehen hast.«
»Warum?«
»Weil sie dann eine Erklärung dafür haben, warum deine Fingerabdrücke drauf sind. Nachdem wir die Tote gefunden haben, hätten wir nichts anfassen dürfen. Jeder Schritt, den wir hier machen, ist einer zu viel.«
»Sagt der, der noch mal neben die Leiche getreten ist und sich alles genau angesehen hat!«
»Ich musste sichergehen, dass sie wirklich tot ist.«
»Und das konnte man von oben aus nicht sehen?«
»Wir warten jetzt auf die Polizei, und das möglichst weit weg. Am besten vorne beim Kiosk.«
Zunächst bewegten wir uns noch in die andere Richtung, denn Wonne wollte ihre Schuhe holen.
»Wer sie wohl auf dem Gewissen hat?«, fragte sie nach einer kleinen Schweigepause, in der wir uns wieder an den Bach gesetzt und etwas erholt hatten.
Es war in Ordnung. Warteten wir eben hier auf die Polizei.
»Noch ist gar nicht gesagt, dass sie ermordet wurde. Und wenn: Für Mord gibt es eine Menge Motive. Um das rauszubekommen, müsste man erst mal feststellen, wer sie ist.«
»Bist du darauf nicht neugierig? Man könnte in die Handtasche gucken und ihre Papiere überprüfen.«
»Ich habe doch gesagt, das ist Aufgabe der Polizei.« Wieder klang ich autoritärer, als ich wollte.
»Du hast also nicht vor, den Fall zu lösen? Das ist doch dein Beruf.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Warum sollte ich? Ich arbeite gerade nicht in meiner Detektei. Und außerdem müsste ich einen Auftrag bekommen. Und den erteilt mir die Polizei sicher nicht. Die haben ja auch viel bessere Methoden.«
»Klärst du denn keine Mordfälle auf?«
»Schon. Wenn es zum Beispiel darum geht, einen Unschuldigen zu entlasten. Dann kann es sein, dass mich der Anwalt des Verdächtigen beauftragt. Aber das kommt relativ selten vor.«
Sie wirkte enttäuscht. Wahrscheinlich hatte sie sich das Detektivleben anders vorgestellt.
In mir geriet einiges durcheinander. Einerseits ärgerte ich mich über mich selbst, dass ich die Chance bei Wonne verpasst hatte. Dann störte mich, dass diese Tote dazwischengekommen war. Und schließlich, dass ich an einem Ort, an dem eine Frau umgekommen war, solchen pietätlosen Gedanken nachhing.
»Was hast du auf einmal?«, fragte Wonne. Sie wirkte nicht sauer, eher besorgt oder mitfühlend.
»Es tut mir leid, dass der Tag sich so entwickelt hat. Es wäre netter gewesen, wir hätten die Blume eingesammelt und unsere kleine Reise fortgesetzt.«
»Das können wir doch immer noch.«
»Nachdem wir mit der Polizei fertig sind. Beziehungsweise sie mit uns. Das kann eine Weile dauern. Eine sehr lange Weile.«
Wie auf Kommando ertönte von irgendwo her ein Martinshorn.
»Ich wundere mich, dass dir das alles gar nicht nahegeht«, sagte ich. »Da liegt immerhin ein toter Mensch. Findest du das nicht schrecklich?«
Wonne beugte sich ein Stück vor, und plötzlich machte sie etwas, das mir wie ein Traum vorkam. Sie strich mir vorsichtig über die Wange.
»Wir können ihr nicht mehr helfen, oder? Und es ist ja nicht so, als würden wir hier eine wilde Party feiern.« Ihr Gesicht kam näher, und dann spürte ich kurz ihre weichen Lippen auf meiner Wange. »Die Aufgabe haben wir auch erfüllt.« Sie öffnete ihre Hand und zeigte mir etwas, was sie wohl die ganze Zeit festgehalten hatte. Ein winziges Stängelchen, gekrönt von einem Kranz aus fünf weißen Blütenblättern. »Davon wachsen da hinten
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