Altenberger Requiem
von einem Familiendrama aus. Der Sohn der Getöteten sei festgenommen worden.
So weit, so bekannt.
Dann erfuhr ich etwas Neues: Die Kripo hatte den Tathergang rekonstruiert. Klara Hackenberg war ein Stück von der Fundstelle entfernt angegriffen worden. Der Täter hatte die Leiche nach der Tat etwa dreißig Meter weit über den Spielplatz geschleift und hinter dem Baumstamm abgelegt. Grenzte das den Täterkreis auf besonders kräftige Menschen ein? Der Journalist zitierte Hauptkommissar Kotten: »Die Tote wog nicht viel. Der Täter muss nicht unbedingt über besonders viel Kraft verfügen.« Reinhold Hackenberg, der wenig auf den Armen hatte, blieb also weiterhin Hauptverdächtiger.
Nachdenklich ließ ich die Zeitung sinken. Dahinter wurde die Mappe sichtbar, die wir heute Nacht aus Klara Hackenbergs Haus geholt hatten.
Junge, du hast eine Menge zu tun, dachte ich. Räum den Frühstückstisch ab und leg los.
Ich begann im Ordner zu blättern. In dem Artikel, den Klara Hackenberg ordentlich ausgeschnitten und auf ein Blatt geklebt hatte, ging es nicht um Matze konkret, aber die Masche, von der Wonne mir erzählt hatte, wurde genau erklärt. Dahinter fand ich Briefe und ein Foto in einer Klarsichthülle. Darauf war eine junge blonde Frau zu sehen, die vor einem Haus stand. Fachwerkbalken waren zu erkennen. Möglich, dass das Bild vor dem Hackenberg’schen Haus aufgenommen worden war. Sie trug ein Kleid mit kleinen Kreisen im Stil der Siebziger, wie es bei manchen Retrofans heute wieder modern war. Die Farben auf der Fotografie waren verblichen; es war nicht zu erkennen, ob der Stoff lila oder blau war.
Der erste Brief war schreibmaschinengeschrieben und auf den 20. Dezember 1975 datiert.
Liebe Tante Klara!
Es tut mir leid, daß ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber hier in Salzburg ist alles noch so neu für mich. Es hat die drei Monate seit meiner Abreise gebraucht, bis wir uns einigermaßen einrichten konnten. Sandro hat auch viel zu tun hier, wie Du Dir denken kannst. Ich wollte dir nur mitteilen, daß es mir gut geht. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Konzerte sind hier auch viel schöner als zu Hause. Und ich habe viele Gelegenheiten, welche zu besuchen. Vielleicht klappt es ja auch mit einem Schmuckladen. Du weißt ja, daß ich davon immer geträumt habe. Ich habe sogar schon wieder angefangen, ein bißchen zu arbeiten. Leider mußte ich aber letzte Woche eine Pause machen, denn ich habe mir beim Einräumen unserer Wohnung die Hand verstaucht. Deswegen schreibe ich auch mit der Schreibmaschine.
Viele Grüße Gabriele
Ihren Namen hatte sie mit der Hand hingekrakelt; vermutlich mit der linken, weil die rechte verletzt war. Ich legte Brief und Foto nebeneinander und ging einfach mal davon aus, dass das Mädchen auf dem Bild besagte Nichte Gabriele war.
Sie stellte Schmuck her, so viel hatte ich verstanden. Jetzt entdeckte ich auf dem Foto auch einen markanten länglichen Ohrring. Ein Gehänge aus kleinen bunten Perlen, mit Ketten verbunden und zu einem Muster gearbeitet: ein auf der Ecke stehendes, länglich verzogenes Rechteck. Eine Raute.
Der Ohrring war schön. Ein Kunstwerk. Wenn ich gewusst hätte, wo Gabriele zu finden war, wäre ich sofort zu ihr gefahren und hätte Wonne so ein Ding gekauft.
Ich blätterte weiter in dem Ordner und fand einen handbeschriebenen Zettel, auf dem eine Zahlenkolonne stand, möglicherweise eine Telefonnummer.
Es gab noch einen zweiten Brief und - ganz hinten eingeheftet - einen schmalen, nicht verklebten Briefumschlag, der etwas unregelmäßig Geformtes zu enthalten schien. Ich senkte die Öffnung nach unten, und da rutschte es auf den Tisch. Das Kunstwerk von dem Foto. Der Ohrring. In Wirklichkeit sah er noch schöner aus.
Ich sah mir den zweiten Brief an. Auch er war mit der Schreibmaschine geschrieben - mit derselben, wie ich an dem leicht schief stehenden kleinen a erkannte.
Sehr geehrte Frau Hackenberg!
Danke für Ihre Briefe, aber leider muß ich Ihnen mitteilen, daß Gabriele und ich uns getrennt haben. Wenn es Sie einmal nach München oder nach Bayern verschlägt, würde ich mich gerne persönlich darüber mit Ihnen unterhalten. Sie wissen ja, daß Gabriele ein sehr eigenwilliger Mensch ist, der sich nicht halten läßt, wenn er nicht will. Leider kann ich Ihnen nicht sagen, wo sie heute lebt. Unsere Trennung liegt nun schon zwei Jahre zurück. Ich war in dieser Zeit viel unterwegs und habe deshalb auch Ihre Post erst recht spät
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