Altenberger Requiem
hättet ihr mir vielleicht nicht geglaubt. Und eine Riesendummheit gemacht.«
»Was geglaubt?«, rief Wonne, die sich neben mich auf die Liege gesetzt hatte.
»Das hier.«
Ich las den Titel des Buches: »Musik und Musiker im Bergischen Land«. Jutta blätterte. Ich erkannte zwischen den Textblöcken Schwarz-Weiß-Fotos von Orchestern, außerdem Porträts von Künstlern.
»Kennt ihr den hier?«
Sie drehte das Buch um. Wonne und ich beugten uns darüber, sodass wir sehen konnten, was sie meinte.
Das Foto war recht alt, bestimmt über zwanzig Jahre, aber das überhebliche Grinsen und die Haarpracht, die damals freilich noch dunkel gewesen war, ließen keinen Zweifel.
»Mathisen«, sagte ich.
Ich sah Wonne an und versuchte ihr durch einen Blick zu verstehen zu geben, dass ich nichts dafür konnte, dass es wieder mal um ihn ging.
»Mathisen ist Sandro Marino«, sagte Jutta.
Ich war wie vom Donner gerührt. Wonne schwieg.
»Das gibt’s doch nicht«, entfuhr es mir. Unter dem Foto informierte ein kurzer Text über den damals noch jungen Sänger. Ich überflog die Zeilen, konnte es aber trotzdem nicht fassen.
»Er hat in Italien studiert«, sagte Jutta. »Und dort hat er sich einen italienischen Künstlernamen gegeben, weil deutsche Namen in Italien nicht so gut ankommen.«
Sie nahm das Buch weg und schlug es mit lautem Knall zu.
»Er hat sich ganz am Beginn seiner Karriere so genannt. Ein paar Jahre später ist ihm klar geworden, dass er sich damit eher lächerlich machte. In Klassikkreisen sind Künstlernamen verpönt. Deswegen hat er davon wieder Abstand genommen und sich Siegfried Mathisen genannt.«
»S und M«, sagte ich. »Dieselben Initialen.« Ich dachte an den kurzen Brief an Wonnes Mutter.
»Genau.« Jutta packte das Buch weg. »Und damit ist die Sache ja wohl klar. Ihr glaubt doch sicher nicht, dass Siegfried einen Mord begangen hat? Und dann auch noch an dem Tag, an dem er auf meine Party kam? Er und Hermine sind beide an diesem Wochenende erst angereist.«
Ich dachte nach. Juttas unbarmherziger Blick, mit dem sie mich durchbohrte, erschwerte meine Gedankentätigkeit deutlich. Sicher, sie konnte nicht glauben, dass ihr langjähriger Bekannter ein Mörder war. Andererseits, wenn man die persönlichen Bedenken abzog und alles nüchtern betrachtete …
»Das heißt überhaupt nichts«, rief Wonne. »Wenn Mathisen und Sandro Marino ein und dieselbe Person sind, dann war es eben Mathisen.«
»Spinnst du?«, fuhr Jutta auf. »Das ist ein in seiner Branche renommierter Mann. Dem kannst du nicht einfach einen Mord in die Schuhe schieben.«
Wonne sprang auf. »Wir haben die Indizien. Sandro Marino war mit Gabriele zusammen.«
»Aber sie hat Klara Hackenberg von Salzburg aus einen Brief nach Wermelskirchen geschickt. Ihr habt nur eine Theorie, aber nicht den Schatten eines Beweises.«
»Der Brief wurde mit der Schreibmaschine geschrieben«, sagte ich. »Er könnte eine Fälschung sein. Sie hätte ihn wahrscheinlich sonst mit der Hand verfasst. Der Brief könnte von ihm stammen … Und die Sache mit der Handverletzung war eine Finte.«
»Alles konstruiert«, sagte Jutta scharf. »Alles Theorie. Wie du selbst sagst.«
»Darf ich das Buch bitte noch mal sehen?«
»Selbstverständlich«, sagte sie und warf Wonne einen Blick zu, in dem das Gift fast sichtbar war. Wonne hielt ihm wunderbar stand. Ohne hinzusehen, griff Jutta in die Tasche und reichte mir den Band.
»Hier steht’s doch klar und deutlich«, sagte ich. »Mathisen alias Marino hat am 31. Oktober 1975 zum letzten Mal im Bergischen Land gesungen. Verdis ›Requiem‹. Und am selben Abend oder einen Tag später hat er …«, ich zögerte kurz, »… jemandem einen Brief geschrieben. Das wissen wir sicher.«
»Noch ein Brief? Was für ein Brief soll das denn gewesen sein?«
»Hier steht weiter, dass er direkt danach nach Salzburg ging, wo er an der Seite der Agentin Hermine Weißenburg eine große Karriere begann. Wie wir heute wissen, war diese Karriere dann irgendwann zu Ende, und er ist selbst ins Agenturgeschäft eingestiegen.«
»Erklär mir, was das für ein Brief sein soll«, beharrte Jutta.
Ich ging immer noch nicht darauf ein. »Mathisen hatte im Oktober 1975 mehrere Beziehungen zu jungen Frauen. Unter anderem zu Gabriele Scherf, die unbedingt nach Salzburg mitkommen wollte. Wenn Mathisen sie mitgenommen hätte, wäre aber die Beziehung zu seiner Agentin geplatzt, die wichtig für seine Laufbahn war. Er konnte es sich nicht
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