Altenberger Requiem
Kürten.
»Ich hab’s«, rief ich ins Handy.
»Gut. Auf der östlichen Seite teilt sich die Talsperre in zwei kleine Finger. Wissen Sie auch, warum?«, fragte er in Lehrer-Manier.
»Äh, ich glaube, das hat was mit den Tälern zu tun … ?
»Es liegt daran, dass zwei Bäche in die Dhünntalsperre fließen. Die Große Dhünn und die Kleine Dhünn. Die Kleine ist die nördlichere.«
Ich hatte immer gedacht, es gäbe nur eine einzige Dhünn, und das mit dem groß und klein hätte irgendwas mit der Quelle und der Mündung zu tun. Ich hütete mich aber, das jetzt zu sagen.
»Wenn Sie nun vom Stausee aus den Bach nach Norden verfolgen, dann kommen Sie erst an den kleinen Ort Dhünn, dann an die Stählsmühle und schließlich an die Knochenmühle am Ende der Straße. Ich weiß nicht, ob das auf Ihrer Karte eingezeichnet ist. Dhünn müssten Sie aber finden.«
Ich versuchte, die Knochenmühle zu entdecken. Erst gelang es mir nicht. Dann wurde mir klar, dass sie sich genau auf dem Knick der Karte befand. Die Ortsbezeichnung war auf der abgenutzten, faserigen Falte fast verschwunden.
»Ich hab sie«, rief ich triumphierend.
»Sehr gut!«, sagte er, als würde er mir eine Note geben. »Dort müssen Sie hin.«
Ich bedankte mich bei ihm, verabschiedete mich und legte auf. Es passte alles zusammen. Die Orte lagen alle dicht beieinander.
Gabriele Scherf hatte damals in dem Haus in Tente gelebt. Sie und Mathisen konnten durchaus in der Gegend bei der Knochenmühle spazieren gegangen sein. Es war nicht weit entfernt. Und daher kannte Mathisen das Tal vielleicht.
Noch etwas fiel mir auf.
In der kurzen Biografie in Juttas Buch hatte ich gelesen, dass Mathisen aus Remscheid stammte. Er war hier aufgewachsen. Wenn er in Altenberg ein Konzert gegeben hatte, dann hatte er vermutlich auch hier in der Gegend übernachtet.
Ich stellte mir den Ablauf vor: Die Aufführung ist vorbei. Die Musiker trinken vielleicht noch etwas zusammen. Gabriele kommt zu Mathisen, um ihm zu eröffnen, dass sie mit ihm nach Salzburg gehen wird. Sie hat alles vorbereitet und ihre Tante informiert. Sie ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln herunter nach Altenberg gekommen. Sie hat vielleicht ohnehin kein Auto besessen. Sie stellt ihn vor vollendete Tatsachen. Mathisen kann ihre Anhänglichkeit nicht gebrauchen. Er hat eine neue Geliebte - die einflussreiche Agentin. Er will es ihr ausreden, will sie wieder nach Hause fahren. Sie sitzen im Auto. Spätestens hier macht sie ihm unmissverständlich klar, dass es kein Zurück gibt. Sie hat alle Brücken hinter sich abgebrochen.
Das setzt den jungen, aufstrebenden Startenor noch mehr unter Druck.
Er beschließt, sie aus dem Weg zu räumen.
Er bringt sie um.
Die Knochenmühle lag grob gesehen zwischen Altenberg und Remscheid. Natürlich war es aufwendig, nachts eine Leiche durch den Wald zu schleifen …
Ich dachte weiter nach: Er fährt also nach Remscheid, übernachtet dort, reist am nächsten Tag nach Salzburg, und niemand vermisst Gabriele. Sie hat allen gesagt, dass sie nach Salzburg geht. Vielleicht hat sie an diesem Abend wirklich alle Brücken hinter sich abgebrochen.
Plötzlich donnerte Musik los. Ich erschrak, erinnerte mich aber daran, dass Wonne diese apokalyptischen Klänge auch eingeschaltet hatte, als sie damals - war es wirklich erst ein paar Tage her? - zu Juttas Fest gefahren kam. Und auf dem Weg runter zu Schloss Burg.
»Das Verdi-Requiem?« schrie ich gegen die Musik an.
Wonne nickte. »Übrigens in einer Aufnahme, bei der Mathisen mitsingt. Die Produktion stammt von 1978.«
Jetzt verstand ich. Sie hielt ihn ja für ihren Vater. Deswegen hatte sie sich diese Version besorgt.
Wir schossen auf die Autobahn, und ich versuchte, mich zu entspannen. Nacheinander ging ich noch mal die Indizien durch. Am Ende war ich immer noch zufrieden mit meiner Theorie, auch wenn ein kleiner Einwand blieb. Ein Stachel, der bei den Überlegungen immer wieder schmerzte.
Wenn Mathisen damals in der Nacht wirklich Gabrieles Leiche versteckt hatte, dann musste es irgendetwas geben, das den Wald um die Knochenmühle besonders geeignet dafür machte. Und wenn dem so war, dann war die Leiche so gut versteckt, dass niemand sie fand.
Warum sollte uns das dann gelingen?
Das war aber noch nicht alles. Die nächste Frage war: Wie passte der Überfall von Matze und seinen Leuten in das Gesamtbild?
Alles der Reihe nach, dachte ich, schloss die Augen und versank in den apokalyptischen Klangfluten der
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