Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
an Bewusstwerdung, sie fragen sich nicht, mit wem sie da eigentlich verheiratet werden und warum. Sie bleiben die ganze Geschichte hindurch relativ gesichtslos, bezeichnenderweise sind sie auch namenlos. Nun ist es in der Regel die dritte oder jüngste Schwester, der dritte oder jüngste Sohn im Märchen, die ein Problem lösen, die sich den Herausforderungen der Geschichte stellen. Warum? Weil der jüngste Sohn bzw. die jüngste Tochter für den unschuldigen, unverdorbenen Entwicklungsimpuls steht – am weitesten entfernt vom alten System.
Allerdings ist auch Rosa am Anfang der Geschichte genauso passiv wie ihre Schwestern. Sie hat offensichtlich keine Einwände dagegen, dass Bilder von ihnen gemalt werden, dass diese öffentlich ausgestellt und sie wie Ware auf dem Marktplatz feilgeboten werden. Sie hat anscheinend auch nichts dagegen, verheiratet zu werden, sie lässt es einfach geschehen.
Er ist ja ein vornehmer Mann, dieser Vater, und bei vornehmen Leuten ist es sehr oft so, dass die Kinder standesgemäß verheiratet werden und sehr viele konventionelle Dinge mit im Spiel sind. Oft ist Herzensenergie gar nicht gefragt: Wichtig ist nur, welches Bild man in der Öffentlichkeit abgibt. Genau deswegen ist es auch stimmig, die Bilder der Töchter auszustellen auf dem Beziehungsmarktplatz. Was die Töchter selbst wünschen, was deren Herzensanliegen ist, das kümmert einen Vater – der keinen Bezug zum Weiblichen hat – in der Regel nicht.
Um die Entwicklung einer Liebesbeziehung im Märchen zu verstehen, ist es sehr hilfreich, die erste Begegnung von Prinz und Prinzessin, von Mann und Frau zu durchleuchten und zu erspüren. Wenn eine Beziehung überhaupt eine Chance haben soll, ist in der Regel die Anfangsverliebtheit Pflicht. Auf Seite eins des Beziehungsmärchens erkennen Prinz und Prinzessin einander in ihrer göttlichen Natur. Das wird oft sehr blumig und eindrucksvoll geschildert. Die Probleme beginnen dann auf Seite zwei. Die unerlösten Elternthemen mischen sich ein: So wird etwa der Prinz von der Hexe versteinert – d.h. sein unerlöstes Mutterproblem kommt auf – oder die Braut wird geraubt von einer Gestalt, die aus dem Symbolkreis des Väterlichen stammt. Dann ist es oft ein langer, mühsamer Weg, der am Ende der Geschichte zur Hochzeit führt. Diese Beziehungsarbeit gelingt nicht immer, aber in der Regel findet sich dieser Dreierschritt im Märchen: Anfangsverliebtheit, Beziehungsarbeit, Hochzeit. Am Ende dieser Beziehungsmärchen spürt man meist, dass jetzt ein reifer, individuierter Mann mit einer reifen, individuierten Frau zusammen ist: ein Sohn, der zum Mann und eine Tochter, die zur Frau geworden ist.
Wie sieht es nun im vorliegenden Märchen aus? Von Gefühlen, von einer Verliebtheit ist überhaupt nicht die Rede. Die Freier wählen ihre Frauen wie aus einem Bestellkatalog. Sie sprechen auch nicht mit den Erwählten, die einzigen Gespräche finden mit dem Vater statt. Wie es in der jeweiligen Frau aussieht, was sie wünscht, welche Gefühle sie hat, steht überhaupt nicht zur Debatte. Wenn der Anfang einer »Beziehung« so aussieht, dann kann die Prognose kaum eine gute sein.
Die beiden älteren Schwestern werden zwar nicht als unglücklich geschildert in der Beziehung zu ihren Männern, aber es deutet nicht unbedingt auf eine große Innigkeit und Verbundenheit hin, wenn sie bereitwillig ihrer jüngsten Schwester den Platz im Ehebett freimachen, und es den Ehemännern nicht einmal auffällt, wenn eine andere neben ihnen liegt. Das klingt doch alles ziemlich beliebig und herzlos, aber wenn Freier auf ein Bild reagieren und nicht am Wesen der Erwählten interessiert sind, verwundert das nicht unbedingt. Eine derartige Beziehung kann ganz gut funktionieren. Beziehungen, in denen die Herzensenergie ausgeschlossen wird, laufen oft einigermaßen »problemlos« ab. Das Herz zu öffn-en macht ja immer auch verletzbar, während ein Arrangement, wie es offensichtlich die Freier mit den älteren Schwestern getroffen haben, ganz nützlich für beide Seiten sein kann. »Mutterlose« Töchter geben sich mit solchen Arrangements oft zufrieden. Wenn man Herzens- und Liebesenergie in der Herkunftsfamilie nicht kennengelernt hat, beispielsweise in der Ehe der Eltern, dann gibt man sich oft mit einem Trostpreis zufrieden. Menschen sind ja schließlich auch Schnäppchenjäger und Kostenberechner.
Zurück zu Rosa, der dritten Tochter und sicherlich interessantesten Frauengestalt in
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