Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
diesem Märchen. Als Einzige wird sie namentlich erwähnt, und doch erscheint sie zunächst genauso »ferngesteuert« wie ihre älteren Schwestern. Sie lässt sich verheiraten, sie akzeptiert – wie selbstverständlich – den väterlichen Willen. Dass sie doch nicht so pflegeleicht ist, beweist sie allerdings in der Hochzeitsnacht: Diese verschläft sie nämlich. Was soll man davon halten, wenn eine Frau ihre Hochzeitsnacht verschläft? Auf allzu großes sexuelles Interesse, oder überhaupt Interesse am Bräutigam, lässt das sicherlich nicht schließen.
Was macht nun ein Mann, wenn er in der Hochzeitsnacht eine schlafende Frau vorfindet? Wenn er so gestrickt ist wie diese Freier, wird er einfach sagen: »Umtauschen«!, her mit einer anderen Frau, die weniger Probleme macht, die nicht so »zickig« ist. Wenn sich in dieser Hochzeitsnacht auch noch das offensichtlich inzestuöse Problem Rosas offenbart, hat ein solcher Freier endgültig die Nase voll. Nichts wie weg. Bitte keine Probleme. So haben wir nicht gewettet. Wenn hier der Bräutigam Rosa aufgeweckt hätte, sie zur Rede gestellt hätte, wenn sie sich über dieses Gespenst unterhalten hätten, wer weiß, was möglich gewesen wäre? Hier passiert das nicht.
Allerdings beginnt jetzt eine Verwandlung mit Rosa: Sie scheint aufzuwachen. Sie möchte wissen: Warum werde ich verlassen? Warum bin ich allein? Was für ein Geheimnis verbirgt sich dahinter? Nun begibt sie sich auf den schmerzhaften Weg der Bewusstwerdung und erfährt, dass das Problem ihrer Einsamkeit und Beziehungslosigkeit im Reich des Vaters liegt.
Töchter, die so eng an den Vater gebunden sind, wie es durch dieses Gespenst kundgetan wird, werden sehr oft einsam und fragen sich dann: Warum habe ich keine Beziehung? Warum klappt es nicht mit mir und Männern? Dabei scheint Rosa doch die attraktivste der drei Schwestern zu sein, zumindest ist sie für die Freier im Bestellkatalog erste Wahl! War sie eine Art Partnerersatz für den Vater? Die Mutter ist ja nicht vorhanden. Ist sie eine missbrauchte Tochter? War der erste Mann in ihrem Leben eine so negative, schreckliche Erfahrung für Rosa, dass sie unbewusst schon früh beschlossen hat: Nie werde ich einem Mann wieder eine Chance geben!
Das ist ja das Problem der verwünschten Prinzessin, der »Rätselprinzessin«: Bewusst will diese Prinzessin eine Beziehung, wer will das nicht? In den seltensten Fällen sagen eine Frau oder ein Mann: Ich will alleine leben, das ist für mich die ideale Lösung! In der Regel ist man nicht zum Eremit geboren, schon gar nicht in der ersten Lebenshälfte. Wenn ich allerdings auf der bewussten Ebene Liebe und Beziehung will, kann es durchaus sein, dass ich auf der unbewussten Ebene genau das Gegenteil will und alles tue, um eine echte Begegnung zu verhindern. Rätselprinzessinnen signalisieren sehr oft: »Komm her, geh weg!« Diesem Problem ist Rosa auf der Spur, und dieses Problem hat seine Wurzeln in ihrer Vaterbeziehung.
Als Rosa dies erkennt, begeht sie den »Vatermord«.
Das sollte man natürlich symbolisch verstehen. Bei aller Gewalt, die es auf der Welt gibt, ist es doch höchst selten, dass in der Realität eine Tochter ihren Vater töten lässt. Man kann diesen Vatermord als einen Versuch betrachten, sich aus der Abhängigkeit dieses Verhältnisses zu lösen, und wie schwierig das für viele Frauen ist, habe ich in vielen Therapiegruppen erlebt. Gerade missbrauchte Töchter, die in einem inzestuösen Klima aufgewachsen sind, hatten oft niemand anderen als den Vater. Ich erinnere wieder daran, dass die Mutter als Bezugsperson offensichtlich nicht da war. Wenn nur der Vater bleibt, dann habe ich niemand anderen als ihn: Mich von ihm zu lösen, würde mich ganz einsam machen. Also akzeptiere ich lieber im Extremfall sogar psychischen oder körperlichen Missbrauch – mache gute Miene zum bösen Spiel – als ganz alleine dazustehen.
Oft spürt eine Tochter in solch einer Situation eine tiefe Ambivalenz, eine »Hassliebe« in ihrer Beziehung zum Vater. Um so eine Ambivalenz scheint es sich hier bei Rosa auch zu handeln, denn es gelingt ihr bei allem Bemühen nicht, den Fängen des Vaters zu entkommen.
Dass die Beziehung zum Vater noch fruchtbar ist, zeigt der Apfelbaum, der auf seinem Grab wächst. Der Apfel ist in Märchen und der Mythologie häufig der Liebesapfel, ein weiterer Hinweis auf die erotische Färbung der Vater-Tochter-Beziehung.
Es ist zum Verrücktwerden:
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