Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
wir verheiratet sind, habe ich immer vergessen, dich zu fragen, aus welchem Grund du zuerst dich mit meiner jüngsten Schwester verbunden, dann aber sie verlassen hast.« Da erzählte ihr denn der Schwager alles, was sich in jener Nacht zugetragen hatte, worauf sie ihn verließ und ihre Schwester den ihr gebührenden Platz wieder einnahm.
Am darauf folgenden Morgen zog Rosa wieder weiter und begab sich zu der anderen Schwester, von deren Mann sie das Nämliche erfuhr, sodass sie dann nach Hause zurückkehrte, und als sie allein war, ausrief: »Nein, ich werde mich mit meinem Vater nicht vermählen, wie das Gespenst gesagt hat, sondern will Mörder dingen und ihn ums Leben bringen lassen!« Wirklich führte sie einige Tage darauf ihren Vorsatz aus, und die Mörder begruben den Getöteten außerhalb der Stadt auf einem Acker, wo aus dem Grab desselben ein Apfelbaum hervorwuchs, der sehr schöne Früchte trug.
Eines Tages nun sah Rosa einen Mann, der Äpfel feilbot, und kaufte ihm einige ab, von deren Genuss sie jedoch schwanger wurde. Bald darauf fing ihr Leib an sich zu runden, ohne dass sie den Grund wusste. Als sie indes später erfuhr, dass auf dem Grab ihres Vaters ein Apfelbaum wachse, erinnerte sie sich, dass sie von jenen Äpfeln gegessen hatte. Gleichwohl sprach sie bei sich selbst: »Trotz alledem soll die Prophezeiung des Gespenstes nicht wahr werden, denn sobald ich entbunden bin, will ich das Kind töten«.
Gesagt, getan. Sobald das Kind geboren war, gab sie ihm mehrere Messerstiche und legte es dann in ein Kästchen, welches sie fest vernagelt ins Meer warf, wo ein vom Lande her blasender Wind es in die hohe See hinaustrieb. Zu gleicher Zeit fuhr jedoch ein Handelsschiff vorüber, dessen Kapitän das Kästchen bemerkte und seinen Leuten zurief: »Setzt das Boot aus und nehmt das Kästchen da auf; wenn Sachen von Wert darin sind, so behaltet sie für euch, enthält es aber etwas Lebendiges, so ist es für mich«. Nachdem man nun das Boot ausgesetzt und das Kästchen aufgefischt hatte, fand man darin ein in Blut schwimmendes Büblein, welches der Kapitän für sich behielt und an Kindes statt annahm.
Als er dann nach Jahren starb, erbte der Adoptivsohn sein ganzes Vermögen und setzte, älter geworden, die Geschäfte, die jener betrieben, fort, wobei er von einem Land ins andere fuhr. Bei einer seiner vielen Reisen geschah es nun, dass er nach dem Wohnort seiner Mutter kam. Als er das Haus sah, fragte er, was das für Bildnisse wären, die sich über der Tür desselben befänden. Da erzählte man ihm die Geschichte der drei Schwestern und fügte hinzu, dass die jüngste noch unverheiratet wäre. »Nun wohl«, sprach er, »so will ich sie heiraten«! und nahm sie auch wirklich zur Frau.
Nach langen Jahren, als sie schon mehrere Kinder hatten, reichte sie ihm eines Tages ein reines Hemd zum Wechseln und sah die Narben der Dolchstiche, die sie ihm einst gegeben. Alsbald stieg eine böse Ahnung in ihr auf und sie fragte ihn: »Was sind das für Narben, die du da auf deiner Brust hast«? Da antwortete er ihr, dass er weder Vater noch Mutter gekannt, sondern dass der Kapitän eines Handelsschiffes ihn auf dem Meer in einem Kästchen gefunden und an Kindes statt angenommen habe. »Und nachdem mein Adoptivvater gestorben«, fuhr er fort, »beerbte ich ihn und führte seine Geschäfte weiter, wobei ich hierher gekommen und dein Mann geworden bin. Dies ist alles, was ich weiß«. Als dies seine Frau hörte, rief sie aus: »So weit also hat mein unseliges Geschick mich verfolgt! Du bist mein Sohn, und jetzt, wo die Vorhersagung des Gespenstes eingetroffen, lasse ich dich in deinem Kummer und meine Kinder als Waisen zurück, ich aber überliefere mich dem Tod, denn dies war mir vom Schicksal bestimmt«! Darauf ging sie hin und tötete sich durch einen Sprung vom Dach. (MÄRCHEN AUS GRIECHENLAND)
4.2.1. Überlegungen zum Märchen
Auch am Anfang dieses Märchens hat der Vater keine Frau an seiner Seite. Was mit der Mutter der drei Töchter geschehen ist, erscheint nicht erwähnenswert. Vielleicht ist die Mutter gestorben, vielleicht hat sie die Familie verlassen, vielleicht ist sie als Person einfach nicht interessant, wie so oft in einer patriarchalisch orientierten Familie. Was mit Töchtern unter diesen Umständen passieren kann, wird am Beispiel der drei Schwestern gezeigt.
Die beiden älteren sind als Personen kaum mehr erwähnenswert, als die Mutter. Sie haben kein Interesse
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