Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
Je mehr sich Rosa gegen dieses Vatergespenst wehrt, desto mächtiger wird es. Je mehr sie versucht, ihrem Schicksal zu entkommen, desto zielsicherer läuft sie ihm in die Arme. Es geht ihr wie Ödipus im griechischen Mythos: Auch er versucht, dem Schicksalsspruch seiner Kindheit zu entkommen, und gerade dadurch wird die Erfüllung des Orakels erst möglich.
Zur Erinnerung: Das Orakel von Delphi prophezeit König Laios, sein Sohn werde ihn einst töten und seine eigene Mutter heiraten. Um den schrecklichen Schicksalsspruch abzuwenden, will Laios seinen neu geborenen Sohn Ödipus töten lassen. Der dazu ausersehene Hirte bringt es jedoch nicht übers Herz, die Tat auszuführen und setzt ihn lediglich in den Bergen aus. Dort wird er gefunden und wächst bei einem anderen König auf, den er für seinen Vater hält. Als der heranwachsende Ödipus von dem Orakelspruch erfährt, will er seinen vermeintlichen Vater beschützen und verlässt dessen Königreich. An einem Kreuzweg begegnet er seinem wahren Vater Laios, den er im Jähzorn erschlägt, ohne zu wissen, wer er ist. Das Orakel erfüllt sich.
Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns mit den »Orakelsprüchen« unserer Kindheit, mit dem schicksalhaften Erbe unserer Eltern auseinandersetzen. Damit meine ich in erster Linie das psychische Erbe. Wenn wir die Vergangenheit nur verleugnen und töten wollen, geht das auf die Dauer nicht gut. Das hat auch Gigi in der letzten Geschichte erfahren müssen. Sicher, in einer bestimmten Zeit der Ablösung kann es notwendig sein, Vater und Mutter zu hassen. Nur dient es nicht der Entwicklung, in diesem Hass stecken zu bleiben.
Eine der Möglichkeiten, sich sehr intensiv mit dem »elterlichen Erbe« auseinanderzusetzen, ist der so genannte »Quadrinity-Prozess«. Diese Gruppe dauert eine Woche lang und – vereinfacht gesagt – dienen die ersten Tage dem »Elternmord«. Anhand von Fragebögen findet jeder Teilnehmer die negativen Denk-, Verhaltens-, und Gefühlsmuster heraus, die er von den Eltern übernommen hat. Die erste Hälfte der Woche ist dazu da, sich zu »reinigen«, diese negativen Muster »zurückzugeben«. In dieser Phase ist es wichtig, sich Schmerz, Wut und Hass zu erlauben. Zum Abschluss dieser ersten Gruppenphase schreibt jeder Teilnehmer einen Hassbrief an Mutter und Vater, in dem alle Vorwürfe– die vielleicht noch nie sein durften – aufs Papier kommen.
Die zweite Hälfte dieser Woche dient der Versöhnungsarbeit. Man lernt, die Welt durch die Augen der Eltern zu sehen, die ja auch nur Kinder von Eltern sind. Hinter den Eltern stehen die Großeltern, dahinter die Urgroßeltern, die ganze Ahnengalerie. Ein Verständnis für die Geschichte der Eltern zu bekommen, ist genauso wichtig wie die Ablösung in Phase eins dieser Gruppe. Am Ende der Woche schreibt jeder Teilnehmer schließlich einen Dankes- und Liebesbrief an Vater und Mutter.
Rosa bleibt bei Phase eins dieses Prozesses stehen, und das bekommt ihr nicht, das bekommt niemandem. Dass das Erbe des Vaters noch sehr fruchtbar ist, erfährt sie durch die Schwangerschaft.
Welches »Entwicklungskind« auch immer da geboren wird, es zeigt Rosa, dass das Erbe des Vaters in ihr noch lebendig ist. Auch bei Gigi aus dem ersten Märchen ist das so, auch er wird seinen Vater nicht wirklich los. Er ergreift denselben Beruf und lebt im selben Dorf wie dieser.
Wenn man in einer Hassbeziehung zum Vater lebt wie Rosa, wird man, wenn man sich in seiner Spur wiederfindet, diesen Entwicklungsimpuls abtöten wollen: »Ich will nie so werden wie du (es willst)! Ich will völlig unabhängig von dir sein, ich schlage dein ‚Erbe’ aus«! So gibt man diesem Entwicklungskind die Messerstiche und schickt es ins Meer, das heißt ins Reich des Unbewussten, zurück.
Ein Sprichwort sagt: »Reife heißt, das Rechte auch dann zu tun, wenn es die Eltern empfohlen haben«. Diesen Satz möchte man Rosa ans Herz legen. Nur weil sie sich auf einmal in einer Entwicklung sieht, die an den Vater erinnert, die das väterliche Erbe wieder lebendig werden lässt, muss das ja noch nicht schlecht sein. Was soll denn an diesem kleinen, unschuldigen Büblein so schlimm sein, dass man ihm Messerstiche versetzen muss? Warum muss alles, was vom Vater kommt, grundsätzlich getötet werden, nur weil es vom Vater, weil es männlich ist? Menschen die prinzipiell alles ablehnen, was von Vater oder Mutter kommt, sei es im Sinne des materiellen, psychischen oder geistigen
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