Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
Eltern aufwachsen. Es gibt auch »psychische Waisenkinder«, Kinder die sich in ihrem Elternhaus einsam, fremd und unverstanden fühlen. Man kann sich auch dann vater- oder mutterlos fühlen, wenn man mit den leiblichen Eltern scheinbar behütet aufwächst. Solche »Waisenkinder« haben im Märchen meist einen einsamen, gefährlichen, aber auch großen Entwicklungsweg. Ohne Hilfe, Schutz und Segen des König-Vaters bzw. der Königin-Mutter unterwegs zu sein, ist – positiv gesehen – eine Herausforderung, an der man wachsen kann, eine Aufforderung zur Individuation.
Don Juan, der alte Schamane und Lehrer von Carlos Castaneda, hat eine Geschichte aus seinem Leben erzählt. Er hat als junger Mann auf einer Farm gearbeitet. Dort gab es einen Vorarbeiter, der ihn verfolgte und töten wollte, weil er ein Indianerfeind war. Mit schweren Verletzungen und letzter Kraft ist es Don Juan gelungen, diesem Menschen zu entkommen. Als alter Weiser erzählt er von dieser Zeit seinem Schüler Castaneda und sagt: „Ich bin diesem Mann sehr dankbar! Durch seine Grausamkeit, Hinterhältigkeit, durch seine Brutalität hat er mich gezwungen, meine kriegerischen Fähigkeiten zu entwickeln, sonst hätte ich nicht überlebt“. Und er gibt diese, für mein Gefühl so heilsame Botschaft: „Solange du glaubst, du bist ein Opfer, wird dein Leben immer die Hölle sein. Betrachte alles, was dir begegnet, als eine Herausforderung, eine Herausforderung an den inneren Krieger“! Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Pfad des Kriegers, wie ihn Don Juan beschreibt, hat nichts mit Gewalttätigkeit zu tun, sondern mit der Entschiedenheit, den Weg des eigenen Herzens zu gehen.
Zwei Geschichten, die den schrecklichen Aspekt des alten Königs beleuchten: In der griechischen Mythologie gibt es Kronos, den römischen Saturn. Von ihm erzählt man, dass er auf Geheiß seiner Mutter Gaia seinen Vater Uranos kastrierte. Aus verständlicher Angst, dass das nicht ohne Folgen bleiben würde und eines seiner eigenen Kinder ihm Ähnliches antun könnte, ließ er sich von seiner Ehefrau alle Neugeborenen geben und verschlang sie. Das ging so lange, bis Zeus geboren wurde. Dieser Zeus war ein so lichter, schöner Knabe, dass die Mutter es nicht übers Herz brachte, ihn dem grausamen Vater zum Fraß vorzuwerfen. Also versteckte sie ihn und als dann Zeus herangewachsen war, stellte er seinen Vater zum Kampf, besiegte ihn und zwang ihn mit einem Brechmittel zur Herausgabe der verschlungenen Kinder.
Die verschlungenen Kinder des Kronos könnte man als verschlungene, gehemmte Entwicklungsimpulse, Lebensenergien verstehen. Es passiert ja häufig im Märchen, dass neugeborene Kinder geraubt oder getötet werden. In der Regel allerdings werden sie später wieder lebendig oder befreit. Symbolisch gesehen, sind das »Lebenskinder«, Entwicklungsimpulse, die nichts anderes wollen, als sich ausleben. Man könnte Kronos mit Goethe auch »den Geist, der stets verneint« nennen. Er ist die Kraft in uns, die jeder neuen Entwicklung mit Angst und Abwehr begegnet. Allerdings sagt der Schamane Don Juan: „Nicht was dir bevorsteht, sollte dich ängstigen, sondern die Vorstellung, dass alles bleibt wie es ist“.
Tröstlich in diesem Mythos ist, dass Kronos’ Kinder nicht tot sind, nur eingesperrt, dass es offensichtlich Möglichkeiten gibt, sie wieder ans Licht des Bewusstseins, ins Leben zu bringen, und zwar mit dem richtigen »Brechmittel« – symbolisch gesehen kann das beispielsweise eine gute Therapie sein!
Doch die Macht von Kronos, die Macht des alten Systems, ist nicht zu unterschätzen. Er gibt seine Herrschaft in der Regel nicht freiwillig auf. Don Juan sagt dazu: „Wenn die alte Welt sich ihrem Ende nähert, lässt sie dich nicht in Frieden, sie windet sich unter dir und schlägt nach dir mit ihrem Schweif“.
Diese alte Welt ist immer außen und innen zugleich. Außen sind es die Menschen, die sich bedroht fühlen, wenn jemand sich ändert, sich wandelt. Oft rufst du in deinem Umfeld Angst und Widerstand hervor, wenn du dich »entwickelst«. »Du hast Dich so verändert! So kenne ich Dich ja gar nicht«, ist oft nicht als Kompliment gemeint, vor allem nicht von denjenigen, die sich in Kronos’ Fängen gemütlich eingerichtet haben. Deswegen sagt Don Juan: „Wenn du auf dem Weg des Wissens bist, musst du dich unerreichbar machen“!
Im Inneren sind natürlich die Ängste hinderlich, die mit jeder Entwicklung verbunden sind. Selbst
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