Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)

Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)

Titel: Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Riemann
Vom Netzwerk:
auch auf dem Gottesacker, der Geist des Bedauernswerten jedoch fand seinen Weg nicht mehr zurück. Gigi saß nur noch da und starrte mit stieren Blicken vor sich hin. Gelegentlich unterbrochen von krampfartigen Zuckungen der Glieder sowie einem unverständlichen Gebrabbel. Dies ging eine gute Woche lang, bis der Tod seinem Leiden ein Ende machte.
     
    Zuerst zögerte man in der Familie, den kranken, alten Vater vom Schicksal seines Sohnes in Kenntnis zu setzen. Doch kaum hatte Pietro von Gigis Ende erfahren, da ging eine erstaunliche Verwandlung mit ihm vor. Er stand wieder auf, wusch sich, zog saubere Kleider an und benahm sich genauso, wie er es vor seiner Erkrankung getan hatte. Den Sohn indessen erwähnte er mit keinem einzigen Wort mehr. Es war, als ob es diesen niemals gegeben hätte.
     
    Bald nahm Pietro auch seine Geschäfte wieder auf. Mit eigenen Augen habe ich ihn auf dem Marktplatz von Lucca gesehen. Gesund und munter, wie ich es selber gerne gewesen wäre. Ihr glaubt es nicht? Ich schwöre euch beim Heiligen Kreuz Christi, dass es nichts als die Wahrheit ist. (MÄRCHEN AUS ITALIEN)
     
4.1.1. Überlegungen zum Märchen
     
    In dieser Vater-Sohn-Tragödie behält am Ende Kronos, das alte System, der alte König, die Oberhand. Der Vater überlebt den Sohn. Objektstufig gesehen: Es gibt »schreckliche« Väter, die ihre Söhne verderben, sie nicht hochkommen lassen, sich nicht überwachsen lassen, den Thron nicht räumen wollen.
     
    Dazu eine wahre Geschichte: Ein Vater, Bundesligaspieler im Tischtennis, hat einen Sohn, den er ehrgeizig trainiert. Irgendwann wird der Sohn so gut, dass er sein erstes Match gegen den Vater gewinnt – woraufhin der Vater einen Monat kein Wort mehr mit ihm wechselt! Sich vom eigenen Sohn körperlich, geistig, seelisch überwachsen zu lassen, ist für jeden Vater eine große Herausforderung und potenzielle Kränkung. Oft ist eine subtile Botschaft im Spiel: Werde stark (klug, erfolgreich etc.), aber nicht stärker (klüger, erfolgreicher etc.) als ich! Dieses Problem findet sich auch in der Lehrer-Schüler-Beziehung. Der Vater, Meister, Lehrer, der sich von Herzen für den Sohn bzw. Schüler freut, der besser wird als er – in der Wirklichkeit ein eher seltenes Exemplar.
     
    Subjektstufig gesehen: In uns allen wohnt Pietro, der Repräsentant des alten Systems, der Geist, der stets (das Neue) verneint. Wir sind Gewohnheitstiere, in der Regel ziemlich automatisiert in unseren Gedanken und Handlungen. Nur wenn wir lebendig bleiben wollen, muss unser innerer Pietro zulassen, von unserem inneren Gigi überwachsen zu werden! Aber wer kennt das nicht: Je mächtiger Gigi (der neue Entwicklungsimpuls) wird, desto mehr ruft er das alte System auf den Plan: Die inneren »Niedermacher«, negative Gedanken und Schuldgefühle. »Ändere nichts!« ist dann die Devise.
     
    Zurück zur Geschichte: Von Anfang an werden der strenge, düstere Pietro und der freundliche, lebenslustige Gigi als polare Gegensätze dargestellt. Pietros Frau, die Mutter von Gigi, wird nur indirekt erwähnt, es scheint eine Familie zu geben. Es wird von Eltern gesprochen, die Mutter als Person tritt allerdings in der ganzen Geschichte nicht in Erscheinung, wie so häufig in Märchen, denen das patriarchale Beziehungsmuster zugrunde liegt. In dieser Art von Beziehung ist die Frau als Person nicht erwähnenswert, nur in ihrer Funktion als Mutter, Gehilfin und Geliebte.
     
    Interessant ist, dass Gigi von Anfang an versucht, dem strengen Vater zu entkommen. Söhne, die einen Pietro zum Vater haben, versuchen häufig, dem Reich des alten Vater-Königs zu entfliehen. Hier kann das Lebensskript entstehen: Ich will nie so werden wie mein Vater. Ich mache alles ganz anders! Verständlich, nur: Gigi ist Pietros Sohn, trägt seine Gene in sich. Niemand kann geschichtslos leben, so wünschenswert das auch sein mag!
     
    Der freundliche Gigi scheint auch nur auf den ersten Blick der Gegenentwurf zu seinem Vater zu sein – denn der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Gigi bleibt im heimatlichen Dorf, »nahe beim Vater«, er wählt denselben Beruf wie dieser, er bleibt sozusagen im »alten Königreich«. Dann beginnt er, den Vater zu überwachsen, wird besser als er. Dies kann man auch als subtile Rache verstehen. Den Vater im eigenen Metier zu besiegen, ist für diesen sicherlich kränkender, als wenn der Sohn einen ganz anderen Weg gewählt hätte (siehe das Tischtennisbeispiel)!
     
    Obwohl von keiner direkten

Weitere Kostenlose Bücher