Altern Wie Ein Gentleman
wieder begegnet, wenn man von einem kurzen Treffen auf der Rolltreppe des Bahnhofs Friedrichstraße zu Berlin absieht. Er war auf dem Weg zu einem Termin, der keinen Aufschub duldete, und so blieb es bei zwei, drei kurzen, unbeantworteten Fragen und der Aufforderung, unbedingt in telefonischem Kontakt zu bleiben. Dann war er wieder verschwunden. Diesmal für immer. Seine Visitenkarte habe ich, was das betrifft, vor die S-Bahn nach Pankow, die kurze Zeit später eintraf, flattern lassen.
So verließ ich zum letzten Mal und für immer das Studio, eingedenk des Ratschlags meiner Mutter: »Kehre nie zurück! Du störst.«
Seitdem bewege ich mich inmitten einer Schar grauköpfiger Arbeitsloser, denen eine sture Bürokratie und aberwitzige Vorschriften Zukunft und Sinn des Lebens geraubt haben: »Es ist eine Schande, dass man auf unsere Erfahrungen verzichtet.« – »Ich frage mich jeden Morgen, warum ich überhaupt aufstehe.« – »Ich habe neulich mit meiner früheren Sekretärin gesprochen. In meiner Abteilung geht es drunter und drüber!« – »Ich kann nicht mehr tun, als meine alten Beziehungen anzubieten. Wenn man darauf verzichten möchte – bitte sehr.« – »Weißt du noch, damals auf dem Bundesparteitag? Da blieb kein Auge trocken. Aber heute …« So tönt es laut und leise, an- und abschwellend, aber stets in beleidigter Tonlage.
Das Gespenst der Nutzlosigkeit geht um. Von der einstigen Bedeutsamkeit und jenem aufregenden Moment, als die Kanzlerin bei einer Veranstaltung der hessischen Landesvertretung in Berlin durch ein angedeutetes Kopfnicken aus der Ferne zu verstehen gab, dass sie wusste, wer man war, bleiben vergleichsweise unansehnliche Krümel: die Großelternrolle, die Pflege des siechen Ehepartners oder ein ehrenamtlicher Einsatz. Das ist im Vergleich zum erfüllten Berufsleben eine klägliche Kulisse und eine echte Tragik für die Gesellschaft, denn von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben unsere Nachfolger, davon sind wir Rentner überzeugt, wenig Ahnung und drohen das üppige Erbe zu verschleudern. Die Programme verflachen, der Stil verkommt, die falschen Leute machen Karriere, die Recherche liegt danieder, und die Regierenden können schalten und walten, wie sie wollen.
»Hast du gestern Abend die Nachrichten gesehen?« – »Geht ja gar nicht!« – »Nur noch peinlich!« – »Kein Gefühl für das Wesentliche!« – »Völlig unverständliches Durcheinander!« So oder so ähnlich sind wir Alten uns einig. Früher war eben alles besser. Davor auch und davor ebenfalls, so dass wir nach wenigen Generationen Rückschau wieder im Paradies angekommen sind. In Wahrheit jedoch ist jede gute alte Zeit einmal eine schlechte neue gewesen.
In anderen Berufen sieht es ähnlich aus, wie man bei gelegentlichen Treffen mit Rentnern aus anderen Branchen ausführlich erzählt bekommt. Und guten Rat und Gratiserzählungen darüber, wie es einst war, will auch keiner haben, berichten diejenigen, die noch Kontakt mit ehemaligen Kollegen pflegen. Es herrscht eine Stimmung wie in der Warteschlange einer Arbeitsagentur, nur unterschieden durch die unmittelbare Umgebung: Golfplätze, Restaurants mit guter Küche und Dachterrassen mit weitem Ausblick.
Wir stehen vor der vertrackten, aber zwingenden Aufgabe, den Begriff »unverzichtbar«, der einst ein wesentlicher Bestandteil unseres Selbstbewusstseins war, zu entsorgen. Denn mit der ersten Rate unserer Rente sind wir verzichtbar geworden, was, aufs Ganze gesehen, jeder Einzelne von uns ohnehin stets war. Das braucht Zeit und ist ohne Entsagungen nicht zu schaffen.
Diese Zeit der Ratlosigkeit und des schmerzlichen Verlustgefühls hat ihre tiefe Ursache in der protestantischen Ethik, die nach Max Weber das sozialpsychologische Fundament der westlichen Industriegesellschaften bildet. Auf sie gehen deren wirtschaftliche Erfolge und schließlich deren politische Überlegenheit zurück. Sie ist ein vielschichtiges Gebräu aus Calvinismus, Fortschrittsgedanken, Aufklärung und technischer Entwicklung und äußert sich in jedem Einzelnen von uns in der täglich neu gelebten Überzeugung, dass die Arbeit der eigentliche Maßstab unserer Existenz sei. Wir sind geboren, um pünktlich, zuverlässig und fleißig unserem Tagewerk nachzugehen. Das ist ein wesentlicher Teil des Lebenssinns und unserer Daseinsberechtigung. Bruder Leichtfuß und seine Schwester Zerstreuung haben den Ernst des Lebens gründlich verkannt und zahlen dafür mit sozialer Verachtung. Wer
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