Altern Wie Ein Gentleman
Nachkriegszeit eingerichtet hatten, natürlich auf Widerstand stieß. Aus dem Konflikt zwischen Beharren und Aufbruch entwickelte sichder Mythos der Achtundsechziger, von dem wir heute noch zehren.
Über Nacht sah sich eine verblüffte Öffentlichkeit einer respektlosen, auftrumpfenden, teils verwegenen Jugend gegenüber, die virtuos die Instrumente zu handhaben wusste, die ihr von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten freundlicherweise überlassen worden waren. Unsere Eltern nannten uns »respektlos«, »unverschämt« und »undankbar«, wir hingegen bezeichneten uns als »politisch«. Auf der Tagesordnung stand die Befreiung aller von allem mittels Teach-ins, Walk-ins, Vollversammlungen, Flugblättern, spontaner Organisation, Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden und vielem mehr.
Bei dem Lärm, den meine Generation damals verursacht hat, den zahlreichen bizarren Parteigründungen und dem ahnungslosen Gerede über Sozialismus wird gern übersehen, dass die Bewegung im Grunde keine Verstaatlichung wollte, sondern im Gegenteil eine Entstaatlichung verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche. Ihr eigentliches Thema war die Ausweitung des privaten Raums und dessen Befreiung von äußerlichem Einfluss. Wir hatten mit großem Erfolg eine Kulturrevolution ins Leben gerufen, garniert mit politischer Utopie, an die so recht keiner glaubte.
Über Nacht wurde alles von allem befreit: die Sexualität von der Moral, die Verkehrsformen von der Konvention, der Tanz von der Choreografie, die Haare vom Coiffeur, die Filmtheater von Opas Kino, die Ehe von der Verbindlichkeit, der Geschlechtsverkehr vom Kinderkriegen, die Frauen von den Männern, die Schwulen vom Paragrafen 175, der Körper von der Körperpflege, die Kleidung von der Mode, die Zeugnisse von den Noten, und das ist eine sehr unvollständige Liste. Der Versuch, Rauschmittel vom Gesetz zu befreien, misslang zwar, aber in der täglichen Praxis wurden auch hier schöne Erfolge erzielt.
Zugegeben – bei genauer Betrachtung war es eine Minderheit, die damals den Aufruhr organisierte, aber mehr als eine entschlossene und ideenreiche Minderheit braucht es nicht, um eine Mehrheit auf Trab zu bringen. Nachdem der Selbstbestimmung auf fast allen Gebieten zu ihrem Recht verholfen war, packten wir die Instrumente des Protests beiseite und kümmerten uns um Beruf und Karriere. Aber wir haben nichts verlernt und nichts vergessen. Vieles liegt auf Abruf bereit und kann für unsere letzten bedeutsamen Gefechte wieder hervorgeholt werden.
Verschiedentlich lese ich, dass wir das »Alter verändern werden«, an anderer Stelle ist davon die Rede, dass wir es gar »abschaffen« oder einen »Mentalitätswandel« herbeiführen wollen, der die »bestehende Definition vom alten Menschen aufhebt«, nach der bewährten Einsicht: »Alt ist jung, und jung ist alt.« Wem das nicht reicht, der ruft vorsorglich nach einer »Revolution des Alters«.
In diesen weitreichenden Plänen erkennt man unschwer Spuren des alten Traums vom ewigen Leben, der freilich stets in einer Katastrophe endete. In der griechischen Mythologie erbittetEos, die Göttin der Morgenröte, für ihren sterblichen Liebhaber Tithonos das ewige Leben. Zeus erfüllt ihr die Bitte. Tithonos stirbt fortan zwar nicht, wird aber älter, bis er als hinfälliger, ständig plappernder Greis für Eos jeden Reiz verloren hat. Um den alten Herrn loszuwerden, verwandelt sie ihn schließlich in eine Zikade. In deren Gestalt geht er seither seiner Lieblingsbeschäftigung nach: der Geschwätzigkeit.
Jonathan Swift lässt seinen Helden Gulliver zu einem Volk reisen, unter dem einige Unsterbliche leben. Auch er weiß letztlich nichts Gutes zu berichten, denn die Sonderlinge altern wie die Sterblichen. Die Schilderung ihrer Leiden, die Swift vor knapp drei Jahrhunderten verfasste, klingt wie die moderne Beschreibung einer Demenzerkrankung: »Mit neunzig nehmen sie keinen Geschmacksunterschied mehr wahr, sondern essen ohne Vergnügen und Appetit, was sie bekommen können. Sie vergessen die Namen auch der engsten Angehörigen. Das führt sogar dazu, dass sie keine Freude mehr am Lesen haben, da ihr Gedächtnis nicht ausreicht, um am Ende eines Satzes sich an dessen Beginn zu erinnern.«
Selbst der medizinische Fortschritt hat daran wenig ändern können, außer dass die Zahl der dementen Alten rasch zunimmt, wenn man das als Fortschritt bezeichnen möchte: Der Tod mag für jeden Einzelnen die finale Katastrophe
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