Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
von ihren eigenen Sklaven hergestellt?« Dies war die Frage, die Kandar ihr zu stellen geraten hatte, aber er hatte ihr nicht die Antwort geliefert.
»Nein«, erwiderte der alte Mann, »die Waldnomaden töten die Männer, die sie gefangennehmen und benutzen die Frauen zum Melken der Kühe und Stuten, zum Sammeln von Dung und zum Sex. Es scheint ihnen nicht in den Sinn zu kommen, unsere Frauen könnten fähig sein, Gold zu bearbeiten, feines Geschirr zu töpfern oder wunderschöne Decken zu weben. Die Sklaven der Waldnomaden stellen so gut wie nie etwas her, was sich zum Verkauf eignet. Die wirklich schönen Dinge kommen von den Steppennomaden, die behaupten, daß sie in einem Sklavenlager in der Nähe eines Ortes fabriziert werden, der ›Der Berg des Elends‹ genannt wird.«
Luma beugte sich vor. »Und wo ist dieses Lager?« fragte sie mit gepreßter Stimme.
»Das weiß niemand in Shamban genauer, nicht einmal der schweineschnäuzige Garash. Nur Nomaden können mit den Nomaden dort oben handeln, ohne Gefahr zu laufen, geköpft zu werden. Der Stamm, der die Sklaven hält, soll ziemlich aggressiv sein. Man behauptet sogar, die Krieger würden Menschenfleisch essen, aber meiner Ansicht nach ist das nur ein Märchen, um Kindern Angst einzujagen.«
»Erzähl ihr von dem Häuptling des Stammes«, drängte Kandar.
»Ach ja, der Häuptling.« Der alte Mann wickelte die Spitze seines Bartes um seinen Finger und blickte Luma an, als sei ihm die Geschichte peinlich. »Die Waldnomaden sind große Erfinder phantastischer Geschichten, und sie tun nichts lieber, als um ihr Lagerfeuer zu sitzen und Gruselmärchen zu erzählen. Sie behaupten, der Häuptling jenes sklavenhaltenden Stammes sei noch ziemlich jung, er habe aber keine Seele, weil ein großer Wahrsager und Schamane sie ihm angeblich geraubt hat. Dieser Schamane bewahrt die Seele des jungen Häuptlings in einem schwarzen Beutel auf, und es wird behauptet, daß er sie jeden Abend herausholt und ein kleines Stück davon abbeißt. Der arme Häuptling soll ein gutaussehender junger Mann sein, mit gelblichem Haar wie ein Nomade, aber mit kastanienbraunen Augen. Es heißt, er beherrscht die Sprache der Mutterleute ebenso fließend wie Hansi, und die Steppennomaden behaupten, der Schamane habe ihn aus den Mutterländern entführt, als er noch ein kleiner Junge war.«
Luma holte tief Luft. »Wie heißt dieser junge Häuptling?«
Der Goldschmied sah sie verständnislos an. »Wenn der junge Häuptling einen Namen hat, dann habe ich ihn jedenfalls noch nie gehört. Die Waldnomaden nennen ihn nur ›der junge Häuptling‹.«
»Der Name ›Keru‹ sagt dir nichts?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Dein Freund hier hat mich auch schon gefragt. Und ich mußte ihm die gleiche Antwort geben.«
»Was ist mit dem Schamanen? Kennst du seinen Namen?« »Oh«, meinte er, »das ist einfach. Der Schamane heißt ›der Seelenfressen.«
Luma warf Kandar einen verzweifelten Blick zu. »Du hast mir doch gesagt, es bestünde Grund zur Hoffnung, daß ...«
»Warte«, sagte Kandar. »Es gibt noch mehr.« Er wandte sich zu dem Goldschmied um. »Erzähl ihr von den Beinen des Seelenfressers.«
»Tja, das ist eine merkwürdige Geschichte.« Der Goldschmied zupfte erneut an seinem Bart und wickelte die Spitze wieder um seinen Zeigefinder. »Dieser Schamane ist allem Anschein nach verkrüppelt – was an sich ja nichts Seltsames ist. Unter den Nomaden gibt es viele, die ihre Beine nicht mehr gebrauchen können. Aber die Nomaden behaupten beharrlich, der Schlangenvogel habe die Beine des Seelenfressers verkrüppelt, was unmöglich ist, weil jeder weiß, daß der Schlangenvogel die segensreiche Göttin war, die Vlahan bei der Belagerung von Shara ...«
Luma wirbelte zu Kandar herum. »Das muß Changar sein!« rief sie aufgeregt.
Der alte Mann war erschrocken über ihre heftige Reaktion. »Changar?« fragte er. »Ich verstehe nicht.« Er zupfte nervös an seinem Bart. »Bitte erklär mir das. Wer oder was ist ein ›Changar‹?«
Kandar und Luma waren in fieberhafter Aufregung, als sie die Werkstatt des Goldschmieds verließen. Sie blieben gerade lange genug stehen, um übereinzukommen, daß sie mit diesen Nachrichten sofort nach Shara zurückreisen mußten. Dann rafften sie ihre langen Gewänder und eilten zum Strand der Lagune, um zu sehen, ob es irgendwelche Boote gab, die sich anschickten, Richtung Süden auszulaufen. Als sie zum Strand hinunterkamen und keine Segel und keine
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