Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
der Krieger. »Die Häuptlinge hatten ihn in einen Sud aus Eichenrinde eingelegt, um zu verhindern, daß sich die Haut ablöst. Es war der Kopf einer Frau, zweifellos. Oben auf dem Kopf, wo sie ein Loch in den Schädel gebohrt hatten, damit der Seelenfresser ihn mit Gold füllen kann, fehlte das Haar, aber an den Seiten war es braun. Vielleicht war es schon immer braun gewesen, vielleicht aber auch von dem Eichenrindensud. Eichenrinde färbt alles braun, wißt ihr. Die Häuptlinge hätten auch einen Sud aus Schierling benutzen können. Schierlingssaft färbt sehr stark und macht Flecken auf der Haut, besonders wenn man die Wurzel eine Weile verfaulen läßt, bevor man sie benutzt.«
Luma war nicht in Stimmung, sich eine Rede über die besten Konservierungsmethoden für abgetrennte Köpfe anzuhören. Sie unterbrach den Krieger, um ihn zu fragen, warum der Seelenfresser eine Belohnung auf den Kopf von Marrahs Tochter, Luma, ausgesetzt hatte, aber er hatte ihnen alles gesagt, was er wußte.
Anschließend machten sie sich auf die Suche nach den Shubhai-Kriegern, die die Fremden bewirtet hatten, doch abgesehen von der wenig hilfreichen Information, daß sich zerstampfte Kastanien, in Wasser eingeweicht, sogar noch besser zur Konservierung von Köpfen eigneten, erfuhren sie nichts. Es war offensichtlich, daß niemand in Shambah wußte, wessen Kopf wirklich in dem Beutel steckte. Das einzige, was sie jetzt tun konnten, war, nach Shara zurückzukehren, wo mit Sicherheit schlechte Nachrichten auf sie warteten.
Da noch immer keine Raspas zu haben waren, blieb ihnen nur eine Alternative: Am Abend gingen sie zur Lagune hinunter und tauschten alle Waren, die sie nach Shamban mitgebracht hatten, gegen einen stabilen Einbaum mit massivem Rumpf. Nachdem sie das Boot sorgfältig auf Lecks untersucht und keine gefunden hatten, luden sie ihre Habe hinein.
Sobald die Gezeiten wechselten, verließen sie Shamban und paddelten aus der Lagune hinaus aufs offene Meer. Es war eine mondlose Nacht, doch sie hatten keine Schwierigkeiten, der Küstenlinie zu folgen, die sich als düstere Silhouette zu ihrer Rechten abzeichnete. Der Himmel über ihnen war klar, die See unter ihnen so glatt und ruhig, daß sie aussah wie ein Teich voller glitzernder Sterne, doch nichts von dieser Ruhe fand seinen Weg in Lumas Herz. Wenn sie ihr Paddel in das schwarze Wasser tauchte, konnte sie an nichts anderes denken als an den Kopf mit den braunfleckigen Wangen und dem mit Eichensud gefärbten Haar.
»Du solltest nicht so hart paddeln«, warnte Kandar sie. »Der Weg nach Shara ist weit, und es bringt nichts, wenn du dich gleich in der ersten Nacht überanstrengst.«
Luma wußte, daß er recht hatte, dennoch tauchte sie weiter ihr Paddel mit aller Kraft ins Wasser. Der Einbaum glitt über die stille Wasserfläche, und sie spürte, wie die nächtliche Kälte sie einhüllte. An Land hatten die Eulen zu jagen begonnen, und sie konnte ihre krächzenden Rufe hören, wenn sie ihre Beute aufstöberten. Dicht über dem Boot schossen Fledermäuse durch die Luft, um die Insekten zu fressen, die sie und Kandar aufscheuchten. Von Zeit zu Zeit wehte ein moschusartiger Geruch von der Marsch herüber, vermischt mit der würzigen Schärfe von Salz und der schalen Süße von vermoderndem Schilfgras.
Wessen Kopf war in dem Beutel? fragte Luma sich ununterbrochen. War es wirklich Keshnas? Der Name Keshna hallte wie ein dumpfer Trommelrhythmus in ihrem Kopf wider und wurde zu dem Takt, in dem sie ihr Paddel ins Wasser tauchte. Und wenn sie ins Wasser hinunterblickte, bildete sie sich manchmal ein, den Kopf neben dem Boot hertreiben zu sehen, fast so nahe, daß sie ihn berühren konnte. Aber ihre Vorstellungskraft war nicht stark genug, um die Entfernung zwischen Shamban und Shara zu überbrücken; und ganz gleich, wie sehr sie sich anstrengte, sie schaffte es nicht, ein Gesicht vor ihrem geistigen Auge heraufzubeschwören.
13. KAPITEL
Luma und Kandar hörten auf zu paddeln und saßen einen Moment still da, während sie prüfend den Himmel betrachteten und die Windrichtung feststellten. In den vergangenen drei Tagen waren sie in gerader Linie von einer Landspitze zur nächsten gepaddelt und hatten offenes Wasser durchquert, statt immer dicht an der Küste zu bleiben. Auf diese Weise hatten sie eine Menge Zeit gewonnen, aber sie mußten vorsichtig sein, weil der Einbaum zu schlecht ausbalanciert war, um einen Sturm zu überstehen.
Kandar entspannte sich und ließ seine
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