Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
jeden Moment übergeben. Sie blickte Kandar an, der kreidebleich geworden war.
»Was könnte denn noch schlimmer sein?« fragte er.
Die Frau begann zu schluchzen. »Es war der Kopf einer lieben jungen Frau, einer allseits geachteten jungen Kriegerin. Keine Shambanerin, Chilana sei Dank, das nicht; aber sie war sehr mutig und es heißt, sie habe oft gegen die Nomaden gekämpft und die Dörfer im Süden gegen sie verteidigt.«
Luma fühlte, wie erneut eine Woge von Übelkeit über ihr zusammenschlug. Sie ballte die Hände so fest zu Fäusten, daß ihre Nägel in ihre Handflächen schnitten und Flecken vor ihren Augen tanzten. Die Tote mußte jemand sein, den sie kannte. Kandars Kinn war energisch vorgeschoben, aber sie konnte das Entsetzen in seinen Augen sehen. »Wie hieß die mutige junge Kriegerin?« wollte er wissen. »Wir haben viele Freunde im Süden, die gegen die Nomaden kämpfen.«
»Möge die Göttin verhindern, daß ihr sie kennt«, erwiderte die Frau. »Ihr Name, so sagen die Shubhai, war Luma, Tochter von Königin Marrah von Shara.«
»Was!« Luma war in Sekundenschnelle auf den Füßen, ihre Schale zerbrach und der Haferbrei war auf dem ganzen Boden verschüttet. Auch Kandar war aufgesprungen und trat wie ein Blinder auf die Reste des Frühstücks.
»Das ist unmöglich!« brüllte er ununterbrochen. »Das ist unmöglich!« Er fuhr zu Luma herum. »Sag ihr, daß das unmöglich ist! «
Luma öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus. Sie faßte sich mit der Hand an die Kehle, berührte ihren Hals, fühlte die feste, glatte Säule aus Muskeln und Haut. Sie war nicht tot, sie war lebendig und wohlauf, dies war ein grausiger Irrtum, es war...
Plötzlich stöhnte sie und biß sich so hart auf die Lippen, daß es beinahe blutete. Ihr war gerade eingefallen, daß sie Shalru in Keshnas Obhut gegeben hatte, bevor sie nach Shamban aufgebrochen war. Hatte Keshna Shalru geritten, als die Nomaden angriffen? Hatten die feindlichen Krieger Keshna auf Lumas Pferd reiten sehen und sie irrtümlich für Luma gehalten? Sie versuchte zu atmen, aber ihre Lungen fühlten sich an, als seien sie zu Eis erstarrt. Sie öffnete den Mund und rang keuchend nach Luft, erstickte fast an ihrem eigenen Entsetzen. War das Keshnas Kopf in dem Beutel? War das möglich?
Ich falle gleich in Ohnmacht, dachte sie. Und dann dachte sie: nein, das werde ich nicht tun. »Hat irgend jemand diesen Kopf gesehen?« Als sie schließlich wieder imstande war, zu sprechen, klang ihre Stimme erstaunlich ruhig. Sie fühlte, wie sie angesichts der Widerwärtigkeit dieser Frage an allen Gliedern zitterte, aber Stavan hatte sie so gut ausgebildet, daß sie nicht zusammenbrechen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte.
»Ja, ein paar der Shubhai-Krieger.« Die Shambanerin rang verzweifelt die Hände, offensichtlich erschüttert über die Reaktion, die sie ausgelöst hatte. »Und Garash hat ihn natürlich auch gesehen. Ich habe gehört, Garash habe dem fetten Häuptling zwei Goldketten gegeben, um einen Blick auf den Kopf zu werfen.«
»Hatte die Frau rötlich-braunes Haar?«
Die Shambanerin sah Luma voller Mitleid an. »Ach, du armes Ding! Du hast diese Luma aus Shara gekannt, nicht wahr?«
»Die Farbe ihres Haares!« drängte Luma. »Was für eine Farbe hatte ihr Haar? Ich muß es wissen!«
»Ich habe keine Ahnung, welche Farbe ihr Haar hatte«, erwiderte die Frau traurig. Sie sammelte die Scherben und die zertretenen Reste des Frühstücks vom Boden auf, rollte das fleckige Tischtuch zusammen und erhob sich. »Verzeiht mir, daß ich euch so aufgeregt habe. Ich gehe jetzt und lasse euch allein mit eurem Kummer. Wenn ihr irgend etwas braucht, ruft einfach meine kleine Schwester und sagt ihr, sie soll mich holen. Sie jätet Unkraut im Garten und wird den ganzen Tag in der Nähe sein.«
Den Rest des Morgens und den größten Teil des Nachmittags verbrachten sie mit dem Versuch, die Shubhai-Krieger ausfindig zu machen, die den bewußten Kopf gesehen hatten. Schließlich spürten sie einen Mann auf, der über und über mit Schlamm bespritzt war und Steine in einen Sumpf warf, der auf Befehl der Halaka überbrückt werden sollte. Der Krieger schien beeindruckt, daß Luma Hansi sprach, aber obwohl er ihre Fragen respektvoll beantwortete, schaute er die ganze Zeit über nur Kandar an, denn bei den Nomaden galt es als ungehörig, wenn ein Mann der Frau eines anderen Mannes ins Gesicht starrte.
»Ich habe den Kopf gesehen, allerdings«, erklärte
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