Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Wasseroberfläche zu kräuseln, überlegte sie, ob es nicht ratsamer sei, den Strand anzusteuern. Aber es war nicht notwendig, an Land zu flüchten. Zwei Tage lang, während sie langsam die Küste entlangfuhren, blieb der Himmel strahlend blau und wolkenlos. Und dann, am frühen Morgen des dritten Tages, blickte Luma aufs Meer hinaus und sah etwas, das ihr einen überraschten Aufschrei entlockte.
»Ein Segel!« schrie sie. Sie erhob sich auf die Füße, stützte sich an der Bordwand des Bootes ab und begann hektisch zu winken. »Es ist ein Raspa! Sieh doch, Kandar! Ein Raspa!« Weit draußen auf dem Meer, fast verborgen durch die gebogene Linie des Horizonts, war ein weißes Segel zu erkennen. Das Boot segelte südwärts Richtung Shara, aber es hätte auch ebensogut geradewegs auf das Höllenreich der Nomaden zusteuern können, denn obwohl Kandar ebenfalls aufstand und beide mit vereinten Kräften schrien und winkten und mit ihren Paddeln gegen die Bordwände des Einbaums schlugen, waren die Seeleute viel zu weit entfernt, um sie hören.
Entmutigt ließen sie sich wieder auf den Boden des Einbaums fallen und starrten sich gegenseitig an.
»Vielleicht machen sie für die Nacht in Mtela fest«, sagte Kandar schließlich.
»Vielleicht«, meinte Luma.
»Ich glaube, wir sollten zusehen, daß wir so schnell wie möglich dort hinkommen.«
»Über offenes Wasser?«
»Ja.«
»Es wäre heller Wahnsinn, aufs offene Meer hinauszupaddeln und diesen Einbaum noch einmal zu riskieren.«
»Du hast recht. Es wäre wirklich heller Wahnsinn.«
»Ich bin auf einer Insel aufgewachsen. Ich sollte es eigentlich besser wissen. Ranala würde mich sofort aus dem Nattern-Verband werfen, wenn sie jemals erführe, daß ich dich ermutigt habe, zum
zweiten Mal
ein solches Risiko einzugehen.«
»Und sie würde mich gleich hinter dir her werfen.«
Sie sahen sich an und grinsten. Dann griffen sie wieder nach den Paddeln, knieten sich hin und paddelten auf dem kürzesten Weg nach Mtela. Das Glück war auf ihrer Seite. Kurz nach Mittag umrundeten sie die letzte Landspitze und sahen vor sich das Dorf. In der Bucht, nur ein kurzes Stück vom Strand entfernt, lag ein Raspa vor Anker, dessen Segel eingerollt waren.
Sie näherten sich dem Ufer, sprangen ins Wasser, zogen den Einbaum die wenigen Meter bis zum Strand hinauf und deponierten ihn an einer Stelle, wo keine Gefahr bestand, daß er von einer verirrten Welle wieder aufs Meer hinausgetragen wurde. Neben den Mutternhäusern schliefen ein paar Hunde, aber ansonsten war niemand zu sehen, was nicht ungewöhnlich war, da in kleinen Dörfern wie Mtela während der heißesten Stunden des Tages fast jeder ein kleines Mittagsschläfchen hielt.
»Hallo!« rief Luma. »Ist zufällig jemand wach?«
»Ja«, antwortete eine vertraute Stimme. Eine große Frau schlenderte, an einer Honigwabe leckend, aus einem der Mutterhäuser. Es war Keshna. Als sie Luma und Kandar erblickte, stieß sie einen überraschten Aufschrei aus und ließ die Honigwabe fallen. »Bei Hans Eiern!« rief sie. »Was tut
ihr
denn hier?«
»Keshna!« jubelten Luma und Kandar. Sie rannten zu ihr, umarmten sie stürmisch und drückten sie immer wieder freudestrahlend an sich. »Du lebst! Du lebst!«
»Natürlich lebe ich.« Keshna lachte. »Was ist bloß in euch gefahren?« Dann wurde sie plötzlich ernst. Sie schob die beiden von sich und löste sich auf eine bedrückte, behutsame Art aus ihrer Umarmung, die ganz und gar untypisch für sie war. »Ihr habt es schon gehört, nicht wahr? Tante Marrah hat mich losgeschickt, um euch zu suchen, euch die traurige Nachricht zu überbringen und euch nach Shara zurückzubringen, aber ihr wißt es schon. Das kann ich merken.«
»Was für eine Nachricht?« fragte Kandar. »Wovon redest du eigentlich?«
»Die Nachricht über Ranala, die Nattern und die arme Clarah. Die Nachricht, daß sie aus dem Hinterhalt überfallen und getötet wurden.«
Voller Entsetzen wich Luma vor Keshna zurück. Sie hörte, wie Kandar neben ihr zischend den Atem durch die Zähne sog.
»Willst du damit etwa sagen, daß bis auf uns drei alle Nattern
tot
sind?«
Keshna ließ sich in den Sand sinken und starrte schuldbewußt zu ihnen hoch. »Du meinst, ihr habt noch nichts davon gewußt? Große Göttin, ich sollte euch die Nachricht schonend beibringen, aber ich dachte ... so wie ihr gejubelt habt, dachte ich, ihr wüßtet bereits Bescheid. Ja, sie sind alle tot. Ich war diejenige, die ihre Leichen fand. Ich hatte
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