Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
noch versucht, so schnell wie möglich nach Shara zurückzukehren, um sie zu warnen, daß ein riesiges Nomadenüberfallkommando auf die Stadt zuritt. Ich ritt in eine Lichtung und plötzlich sah ich sie dort liegen. Ich wußte sofort, wer sie waren – nur Clarah konnte ich nicht auf Anhieb identifizieren. Bei ihr war ich mir nicht sicher, bis ich ihre Leiche herumdrehte und ihr Clanzeichen sah, das sie noch immer an einer Kette um den Hals trug. Es war nur aus Kupfer, deshalb hatten die Nomaden sich nicht die Mühe gemacht, es zu stehlen.«
Luma setzte sich neben Keshna in den Sand und umklammerte ihre Hand. »Warum konntest du Clarah nicht an ihrem Gesicht erkennen?« fragte sie. Sie ahnte die Antwort bereits, und ihr graute davor, sie zu hören.
»Ich konnte sie nicht an ihrem Gesicht erkennen«, erwiderte Keshna, »weil sie kein Gesicht mehr hatte, an dem ich sie hätte erkennen können. Die Nomadenbastarde hatten ihr den Kopf abgeschnitten.«
DRITTES BUCH
Der Seelenfresser
Vier Götter
trafen sich am Flußufer.
Einer überlebte, einer starb,
zwei verwandelten sich in Träume.
Sag mir, wohin die Spinne verschwand.
Sag mir, wo die Träumer schlafen.
Sag mir, warum die Sommerschlange
ihre Winterhaut abstreifte.
Rätsel unbekannter Herkunft,
verfaßt in kretischer Linear-A-Schrift
Tonscherbe, Grabstätte
Mallia, östliches Kreta
14. KAPITEL
Shara, drei Jahre später
Eines warmen Morgens im Hochsommer beobachteten die Wachtposten hoch oben auf den Mauern von Shara, wie sich eine Nomadenfrau und ein vollbewaffneter Nomadenkrieger von Norden her der Stadt näherten. Der Krieger, der einen grauen Wallach ritt, sah ziemlich alltäglich aus. Er war ein wenig plumper als die meisten Nomaden, hatten einen kahlgeschorenen Kopf und einen rötlichen Bart, der struppig war wie ein Reisigbesen. Seine Arme waren mit Stammeszeichen bedeckt, und er trug einen Kupferring in der Nase und weitere Ringe in den Ohrläppchen.
Da ein einzelner Krieger keine Bedrohung darstellte, glitten die Augen der Wachtposten hinweg zu der Frau. Sie war noch ziemlich jung – vermutlich nicht älter als dreizehn – und hatte flachsblondes Haar, lange, schlanke Arme und schmale Hüften. Ihr Gesicht war derart mit Tätowierungen bedeckt, daß ihre Züge kaum noch zu erkennen waren. Es waren jedoch nicht die auffälligen Tätowierungen, die die Wachen stutzig machten. Gewöhnlich ritten Nomadenfrauen in respektvollem Abstand hinter den Männern, die sie begleiteten, aber diesflachsblondest neben dem Krieger her. Sie war auch nicht von Kopf bis Fuß in schwarze Schals gehüllt wie die Nomadinnen, die die Wachtposten bisher zu Gesicht bekommen hatten. Sie ritt barbrüstig und mit unverhülltem Gesicht wie eine Frau aus dem Volk der Mutterleute, und sie war nur mit einem ledernen Lendenschurz und Stiefeln bekleidet. Als sei all das noch nicht erstaunlich genug, trug sie auch noch einen Speer.
Eine halbnackte Nomadenfrau mit einem Speer! Was hatte das zu bedeuten? Eine Nomadin, die sich erdreistet hätte, derart unverschämt neben einem Krieger herzureiten, wäre zur Strafe grün und blau geprügelt worden. Doch da war sie, galoppierte über die Felder auf die Stadt zu und schwenkte ihren Speer, als sei sie ein Mitglied des Schlangen-Verbandes.
Die Wachtposten beäugten das Paar mißtrauisch und überlegten, ob dies vielleicht so etwas wie eine Falle war. Sie spannten Pfeile in ihre Bogensehnen, warteten ab und hielten scharf in alle Richtungen Ausschau.
Der Krieger und die Frau ritten auf lässige, fast arrogant wirkende Art auf das Stadttor zu. Als sie so nahe waren, daß die Wachtposten die Schnürsenkel an ihren Stiefeln erkennen konnten, zügelten sie ihre Pferde.
»Ist dies die Stadt Shara?« rief der Krieger mit schwerem, guttural klingendem Akzent.
»Ja«, brüllte einer der Wächter zurück. »Wer bist du?«
Das Gesicht des Kriegers verzog sich zu einer so finsteren Miene, daß sein Bart zuckte. »Erkennt ihr mich denn nicht, ihr Schwachköpfe?«
»Wir haben dich noch nie zuvor gesehen«, antworteten die Wachen. »Nenn uns deinen Namen und sag uns, was du willst.« Sie beugten sich über den Rand der Stadtmauer und zielten drohend mit ihren Pfeilen und Speeren auf den Nomaden.
»Ich möchte im Mutterhaus eurer Königin schlafen«, brüllte der Krieger mit demselben schweren Akzent wie zuvor. Er sah in die schockierten Gesichter der Wachtposten und fing an zu lachen. »Das ist ja herrlich!« rief er. »Ihr erkennt
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