Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
mich wirklich nicht, stimmt's?« Plötzlich war sein Akzent verschwunden, seine Stimme klang auf einmal seltsam hoch, und die sharanischen Worte kamen ihm glatt und flüssig über die Lippen. Er hob seine Hand an seinen Bart, riß kräftig daran und zog ihn vom Gesicht. »Ich bin's. Keshna! «
Und es war tatsächlich Keshna, die dort auf dem grauen Wallach saß und sich köstlich darüber amüsierte, daß die Wachen ihre Tarnung nicht durchschaut hatten. Die Wachen senkten ihre Speere und Bögen und stimmten in ihr Gelächter ein. Seit Keshna und Luma begonnen hatten, Erkundungsritte zu unternehmen, um die Nomaden zu bespitzeln, waren sie Meisterinnen in der Kunst des Tarnens und Täuschens geworden. Sie waren viele Male unerkannt durch feindliches Territorium gereist, verkleidet als alte Frauen, als Händler, die so gut wie keine Tauschwaren mit sich führten, und als Pilger, die von einer solch schrecklichen Hautkrankheit befallen waren, daß selbst der wackerste Krieger entsetzt den Blick abwandte. In den vergangenen drei Jahren war es den beiden schon viermal gelungen, die sharanischen Wachtposten an der Nase herumzuführen. Dies war nun das fünfte Mal.
»Keshna!« riefen die Wachen. »Willkommen zu Hause! Das nächste Mal solltest du uns lieber gleich sagen, wer du bist. Wir hätten dich beinahe erschossen.« Eine Wächterin namens Mishah zog eine Blume hinter ihrem Ohr hervor und warf sie Keshna zu.
»Welche Neuigkeiten bringst du uns von deinem Erkundungsritt mit?« wollte Mishah wissen.
»Großartige Neuigkeiten«, erwiderte Keshna. »Aber ich darf nicht darüber sprechen.«
»Geheimnisse über Geheimnisse. Die Welt scheint heuzutage nur noch aus Geheimnissen zu bestehen. Lassen sich diese Tätowierungen auf deinen Armen abwaschen, Keshna, Liebes, oder wirst du den Rest deines Lebens wie ein wandelndes Wandgemälde herumlaufen?«
»Sie sind nur aufgemalt. In ein paar Wochen wird die Farbe völlig verblaßt sein.«
»Wer ist deine hübsche Freundin?«
»Laß mich herein, dann wirst du es erfahren. Wo ist Luma?«
»Ich glaube, sie ist zu Hause. Driknak vollzieht heute morgen eine Heilungszeremonie im Eulentempel, und sie hat Baby Sabalah bei Luma gelassen. Aber kannst du uns, bevor du gehst, nicht zuerst etwas über die schöne Frau erzählen, die mit dir reitet? Sie hat die Grazie eines Sonnenaufgangs.«
Keshna grinste. »Keine Sorge, Mishah, du wirst noch reichlich Gelegenheit haben, sie zu fragen, ob sie Freude mit dir teilen will. Sie wird wahrscheinlich in Shara bleiben. Aber jetzt geht sie erst einmal schnurstracks mit mir zu Tante Marrahs Mutterhaus. Und wenn du glaubst, du könntest dich an ihre Fersen heften und sie um ihre Liebe anflehen, vergiß es. Sie spricht nämlich nur Hansi.«
Als Mishah und die drei anderen Wachtposten erkannten, daß es zwecklos war, Keshna Informationen entlocken zu wollen, die diese nicht preiszugeben bereit war, zogen sie die schwere Querstange zurück und schwangen das Stadttor auf.
Keshna fand Luma im Gemeinschaftsraum von Marrahs Mutterhaus. Sie hatte Baby Sabalah gerade für ein kurzes Mittagsschläfchen zu Bett gebracht, doch statt sich auszuruhen – wie Keshna es sicherlich getan hätte, wenn sie einen ganzen Morgen lang auf ein Baby aufgepaßt hätte –, war Luma eifrig dabei, Wolle zu karden.
»Und? Wie ist es dir ergangen?« fragte sie und entfernte die Flusen aus den Wollkämmen.
»Gut.« Keshna ließ ihre Fingerknöchel knacken und warf Luma einen langen, nachdenklichen Blick zu. »Ich hatte drei Wochen schönes Wetter. Es war so friedlich, daß mein Bogen fast verrottet wäre, weil ich ihn nicht benutzt habe. Außer einer alten Priesterin hat niemand meine Tarnung durchschaut, aber sie war so klug, den Mund zu halten.«
»Mehr kannst du wohl kaum verlangen.«
»Sei dir da nicht so sicher.« In Keshnas Stimme schwang ein Unterton mit, der Luma aufblicken ließ. Keshna trug einen seltsamen Ausdruck zur Schau – nicht ihre übliche vergnügte Überheblichkeit, sondern etwas Düsteres und Zwiespältiges. Luma legte ihre Wollkämme nieder und erhob sich.
»Was ist passiert?«
»Nichts.« Wieder warf Keshna Luma einen Blick zu, der eine Mischung zwischen Besorgnis und Triumph zu sein schien. »Ganz im Gegenteil, ich habe eine großartige Neuigkeit für dich.« Sie hob warnend die Hand. »Du brauchst nicht gleich hysterisch zu werden vor Aufregung, aber ich glaube, es ist möglich, daß wir ...« Sie brach abrupt ab. »Weißt du, du solltest
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