Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
vielleicht doch besser sitzen, wenn du das hier hörst.«
Luma verschränkte die Arme vor der Brust, um zu demonstrieren, daß sie nicht die Absicht hatte, sich wieder hinzusetzen.
»Keshna, du weißt, es macht mich wahnsinnig, wenn du versuchst, mir etwas schonend beizubringen. Du bist schrecklich. Nun komm endlich zur Sache.«
»Ich glaube, wir haben Keru endlich gefunden.«
Als Kerus Name fiel, wurden Lumas Lippen schmal, und aus ihrem Gesicht wich alle Farbe. Sie setzte sich abrupt hin, als ob ihre Knie plötzlich unter ihr nachgegeben hätten. »Wo ist er?«
»Ich möchte nicht, daß du die Geschichte von mir hörst. Ich möchte, daß du sie von der Frau erfährst, die sie mir erzählt hat.« Keshna wies zur Tür. Eine junge Frau stand auf der Schwelle und wartete darauf, daß man sie aufforderte einzutreten. Ihr blondes Haar war lang und fein, und sie trug es unbedeckt wie die Frauen des Muttervolkes, aber ihr Gesicht war so stark tätowiert, daß sie wie verschleiert aussah. Überrascht stellte Luma fest, daß die Tätowierungen Spinnen darstellten. Vier Spinnen hockten auf ihrem Kinn, sechs auf ihrer Stirn, und zwei spähten hinter jedem Ohrläppchen hervor.
»Ich bin kein sonderlich hübscher Anblick, nicht?« sagte die junge Frau auf Hansi. »Aber ich habe mir diese verfluchten Tätowierungen nicht ausgesucht. Die Schamanen oben im Norden verehren Han, den Gott des Leuchtenden Himmels, nicht mehr so wie früher. Sie haben sich von Seiner Helligkeit abgewandt und angefangen, Choatks Höllenspinnen auf die Gesichter der Frauen zu tätowieren, die sie ihm zu opfern gedenken, aber ich hatte Glück.« Sie betrat den Raum und blickte Luma mit einem Ausdruck an, der nicht allzu freundlich war. »Ist das Luma, Tochter von Marrah aus Shara?« fragte sie Keshna.
»Genau die«, erwiderte Keshna.
Die Frau wandte sich zu Luma um und verbeugte sich auf Nomadenart, indem sie sich mit den Fäusten gegen die Brust schlug. »Luma Tochter von Marrah«, begann sie mit großer Förmlichkeit, »ich bin Bagnak Tochter von Shrifhan. Ich habe eine Ehrenschuld zu begleichen, und hiermit bezahle ich sie: Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich die Konkubine deines Bruders war.
Ich habe – laß mich nachrechnen – mindestens ein Jahr lang sein Bett gewärmt, bevor ich krank wurde«, fuhr Bagnak fort, ohne sich um Lumas überraschten Ausruf zu kümmern. »Er war freundlich, dein Bruder, zumindest wenn er nüchtern war. Als ich von der Hustenkrankheit befallen wurde und es so aussah, als würde ich sterben, wollte er mir die Freiheit schenken, aber der alte Changar wollte es nicht zulassen.«
Changar! Dann war ihre Vermutung also richtig! Changar hatte Keru tatsächlich entführt! Luma ballte die Hände zu Fäusten und biß sich auf die Lippen, um die Frau nicht zu unterbrechen.
»Changar wollte mich wie ein Pferd opfern, aber Keru hatte Mitleid mit mir und ließ mich heimlich entkommen. Ich wäre im Wald fast gestorben, aber ich hatte Glück. Durch Zufall traf ich auf ein Dorf von Frauen. Die Frauen waren entflohene Sklavinnen, waren vergewaltigt worden oder auf irgendeine andere Weise durch Nomanden zu Schaden gekommen, und sie hatten sich zusammengetan und sich geschworen, sich gegenseitig wie Schwestern zu beschützen. Sie waren wild und grimmig wie Hansi-Krieger, aber barmherzig gegenüber Frauen, deshalb pflegten sie mich während meiner Krankheit. Nachdem ich mich wieder erholt hatte, bildeten sie mich zur Kriegerin aus und erklärten mir, ich könnte mich für ihre Freundlichkeit revanchieren, indem ich nach Shara reite und dir berichte, daß ich Kerus Konkubine war.«
Luma öffnete den Mund, doch es kam kein Wort heraus. Sie hatte ein seltsames Brausen in den Ohren, ihre Kehle war wie ausgedörrt, und der Raum schien einen kleinen Tanz zu vollführen, drehte sich ein wenig seitwärts und dann wieder zurück. »Du sagst, du bist Kerus Konkubine gewesen?« brachte sie schließlich hervor.
»Das habe ich dir doch gerade eben erzählt.«
»Dann ist Keru nach all diesen Jahren also wirklich noch am Leben?«
Bagnak wandte sich zu Keshna um. »Ist sie taub?«
»Nur völlig verdattert«, erklärte Keshna. »Sprich weiter. Erzähl ihr, wo er jetzt ist.«
»Als ich Keru das letzte Mal sah – das war vor ungefähr vier Monaten –, kampierten er und seine Krieger am Nordufer des Rauchflusses, an der ersten Stelle, wo Männer zu Pferd den Fluß durchwaten können. Früher war dort ein kleines Dorf namens Mahclah,
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