Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
und behängten sie mit geweihtem Schmuck. In Shara wurden die geweihten Schmuckstücke jetzt größtenteils aus Gold gefertigt – dank Ranala und den Schlangen und den von ihnen besiegten Nomadenkriegern –, aber Marrah duldete kein Gold auf Alzac. Deshalb waren die Halsketten, die sie und Hiknak ihren Töchtern umhängten, noch von der traditionellen Art: aus seltenen polierten Muscheln, blauen Steinen aus dem Westen und ein paar kleinen Kupferperlen.
Nachdem die Mädchen festlich gekleidet und geschmückt waren, führten Hiknak und Marrah sie zu Stavan, der sie bei der Hand nahm und sie voller Stolz durch die jubelnde Menschenmenge führte, während die Trommler einen rasanten Wirbel schlugen und die Kinder Blumen streuten. Als sie den Strand erreichten, küßte er die Mädchen förmlich auf beide Wangen und zerschnitt die Lederschnüre ihrer Kinderhalsketten mit einer kleinen, doppelschneidigen Jaditaxt. Dann hielt er die Halsbänder hoch, so daß alle sie sehen konnten, und rief: »Luma und Keshna sind keine Kinder mehr!«
»Keine Kinder mehr!« brüllten alle, und einige der Älteren schluchzten ergriffen, denn der Übergang vom Mädchen zur Frau war immer ein bewegender Moment.
Stavan drückte ihnen die zerschnittenen Ketten in die Hand, trat einen Schritt zurück und nickte Marrah und Hiknak zu, die daraufhin vortraten, vor Luma und Keshna niederknieten und ihnen Tonschalen mit bitterem, mit Honig gesüßtem Kräutertee reichten. In der Zeitspanne zwischen dem Durchschneiden der Kinderhalsketten und dem Trinken des Tees waren Luma und Keshna weder Kinder noch Frauen, sondern lediglich Geschöpfe der Göttin Erde; und wenn sie laut gesprochen oder die Zeremonie in diesem Augenblick unterbrochen hätten, hätten sie sich für immer dem Dienst an der Göttin verschrieben. Aber das war nicht die Überraschung, die sie vorbereitet hatten, daher empfingen sie die Schalen von ihren Müttern und tranken sie aus, ohne Grimassen zu schneiden, obwohl das Gebräu furchtbar bitter war.
Als sie ausgetrunken hatten, gaben sie die Schalen an Marrah und Hiknak zurück, die sie auf dem Boden zerschlugen.
»Seht die neuen Frauen! « riefen die Mütter, und als die Menge erneut jubelte und die Trommler auf ihre Trommeln schlugen, wirbelten Luma und Keshna ihre Kinderhalsketten hoch über dem Kopf herum und warfen sie aufs Meer hinaus. Luma vollzog diese Zeremonie in respektvollem Schweigen, aber Keshna war durch und durch eine Rebellin.
»Ein Glück, daß ich die los bin!« murmelte sie und schleuderte ihre Kette ins Wasser. Keiner außer Hiknak hörte sie, doch da Hiknak nicht als Kind des Muttervolkes zur Welt gekommen war, war sie eher amüsiert als schockiert.
Sobald die Halsketten die Wasseroberfläche berührten, war der förmliche Teil der Zeremonie vorbei, und das Vergnügen begann.
Den Rest des Nachmittags verbrachte die Gesellschaft mit Singen und Tanzen und einem großen Festmahl, und während der ganzen Zeit benahmen Keshna und Luma sich gesittet und liebenswürdig. Erst bei Einbruch der Nacht begannen die Dinge sich allmählich zu entwirren.
Der Ärger begann, als die jungen Männer von Alzac anfingen zu tanzen. Der Tanz der jungen Burschen war Teil eines uralten Rituals, dessen Ursprung in Vergessenheit geraten war, aber in den Gedenkliedern wurde behauptet, daß zur Zeit des allersten Mutterclans solche Tänze zu Ehren der Göttin Erde aufgeführt worden waren. Wenn ein Mädchen oder Junge volljährig wurde, war sie oder er dem alten Glauben zufolge mit der gleichen heiligen Kraft gesegnet, die auch den Blumen und Bäumen und Tieren inne-wohnte, die den Wechsel der Jahreszeiten bestimmte und Kinder zeugte. Diese Kraft war zweifellos sexueller Art, denn die Mutterleute waren eines der sinnlichsten Völker, das jemals existiert hatte; aber Sex, so wie sie ihn verstanden, war nicht nur auf die Umarmung von Liebenden beschränkt. Die göttliche Freude, die die Wellen an den Strand branden, die den Weizen aus der Erde sprießen und die Sterne über den Himmel wandern ließ, war die gleiche Freude, die auch das menschliche Herz erfüllte, wenn sich Körper an Körper schmiegte und Lippen miteinander verschmolzen.
Im Gegensatz zu den Nomaden, die Sex als amüsanten Zeitvertreib oder – schlimmer noch – als gewaltsame Eroberung betrachteten, war der Liebesakt für die Mutterleute eine Art Gebet, eine Huldigung an die Muttergöttin, die als Zeichen Ihrer Zuneigung allen Lebewesen sinnliche Lust geschenkt
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