Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
die Wahl zu treffen, auf die alle voller Spannung warteten. Luma erhob sich sofort mit einem gedämpften Rasseln von Perlen und Muscheln. Sie stand hochaufgerichtet da, bleich und wunderschön im Widerschein des Feuers. Als die Flammen in der Seebrise flackerten und die Schatten sich verlagerten, schienen die Schlangen, die Marrah auf ihre Beine gemalt hatte, bis zu ihrem Nabel hinaufzugleiten, um sie mit Kraft zu erfüllen und ihr Glück und ein langes Leben zu bescheren. Sie sah genauso aus, wie eine neue Frau aussehen sollte: stark und schön und bereit, allen Widrigkeiten des Lebens mutig die Stirn zu bieten, und Marrah war niemals so stolz gewesen wie in diesem Moment, ihre Mutter zu sein.
Für die Dauer eines Atemzugs stand Luma im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Doch bald dämmerte den Leuten, daß da etwas nicht stimmte: Keshna hätte neben Luma stehen sollen, aber Keshna rührte sich nicht. Sie saß noch immer in der vordersten Reihe, die Arme fest vor der Brust verschränkt. In der Annahme, daß sie vielleicht nicht verstanden hatte, was von ihr erwartet wurde, bedeutete Marrah ihr abermals, sich zu erheben, doch Keshna saß nur da und starrte mit finsterer, trotziger Miene auf ihre Mutter. Hiknak kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Sie hatte ihn im Laufe der vergangenen fünfzehn Jahre schon viele Male auf Keshnas Gesicht gesehen, und er hatte stets Ärger bedeutet. Den gleichen grimmigen Ausdruck hatte Keshna nach dem ersten Nomaden-überfall auf Shara zur Schau getragen, als sie sich monatelang geweigert hatte, mit irgend jemandem zu reden. Keshna war damals zwar noch ein kleines Kind gewesen, doch selbst im Alter von drei Jahren hatte sie einen eisernen Willen besessen. Und Hiknak wurde klar, daß ihre Tochter aus irgendeinem unerfindlichen Grund beschlossen hatte, die Zeremonie zu sabotieren.
»Steh auf, Keshna«, befahl Hiknak. Beim Klang ihrer Stimme fuhren die Zuschauer erschrocken zusammen, denn bei diesem speziellen Anlaß sollten Mütter eigentlich nicht vor ihren Töchtern sprechen; aber Keshna zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Ich habe gesagt, steh auf und triff deine Wahl.«
»Ich werde nicht wählen«, flüsterte Keshna mit gepreßter Stimme und funkelte ihre Mutter böse an. Die Zuschauer keuchten auf, empört über den respektlosen Ton des Mädchens, doch weder Hiknak noch Keshna kümmerten sich um das mißbilligende Zischen, das durch die Menge ging.
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, ich weigere mich, einen von diesen Arishik-Idioten zu wählen, um mit ihm zu schlafen. « Arishik war ein sehr häßliches Hansi-Schimpfwort für einen Mann, dessen Penis nicht richtig funktionierte, und Keshna sprach es mit Wonne aus.
»Wie bitte?«
»Du hast mich verstanden, Mutter.« Keshna musterte die jungen Männer voller Verachtung. »Ich würde selbst dann keinen von diesen hüftenschwingenden Arishikis in meinem Bett dulden, wenn ich vor Kälte zu Eis erstarrt wäre und einen warmen Körper brauchte, um zu verhindern, daß mir die Füße abfallen! Wenn es mir freisteht zu wählen, dann muß es mir auch freistehen, keinen von ihnen zu wählen. Ich hätte heute aber gerne einen richtigen Mann, aber ich sehe hier keinen.« Wieder ließ sie ihren Blick verächtlich über die Tänzer schweifen. »Ich sehe nur
Jungen,
und keiner dieser
Jungen
verdient es, auch nur an meinem kleinen Finger zu nuckeln!«
Vor dem Tanz hätte Keshna alle Beteiligten ohne weiteres informieren können, daß sie nicht die Absicht hatte, einen Partner zu wählen. Niemand hätte ihr diese Entscheidung übelgenommen, und es hätte keinen Skandal gegeben. Aber eine junge Frau, die gerade volljährig geworden war, ließ nicht die jungen Männer für sich tanzen, um sie anschließend zu beleidigen und brüsk zurückzuweisen.
»Steh auf und triff deine Wahl«, schrie Hiknak, »sonst bist du nicht mehr meine Tochter!«
Das war das letzte, was die Zuschauer von der Unterhaltung verstanden, denn Keshna brüllte ihre Mutter jetzt auf Hansi an und Hiknak brüllte in der gleichen Sprache zurück. Marrah und Luma beherrschten die Sprache der Nomaden ebenfalls, aber beide waren zu schockiert, um zu übersetzen. Bei Marrah war es der Zorn über Keshnas verabscheuungswürdiges Betragen, das ihre Zunge lähmte, bei Luma ein Gefühl des Verrats. Später, als die ganze katastrophale Nacht vorbei war, erfuhr Marrah, daß Keshna und Luma zwar schon seit längerem geplant hatten, bei ihrer Volljährigkeitszeremonie eine Szene zu
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